Dienstag, 6. Oktober 2009

An der Wupper


Ab und an - und sei es nur für zwei Tage - müssen auch Neuköllner mal raus aus dem Kiez und in die große, weite Welt reisen. Die fängt bekanntlich in Höhe von Hagen und Wuppertal an. Weitläufig, weltstädtisch, durch und durch urban, verwurzelt in regionaler Industriegeschichte, Arbeitermilieu, geprägt durch Tüftler, Ingenieure, Industriemagnaten und ein großherziges, kunstbeflissenes Großbürgertum mit einer Prise Fachwerk und Landwirtschaft. Alles da, was man nicht wirklich vermisst. Berlin in die Breite gezogen, ohne Berliner Bevölkerung. Trotzdem sehr sympathisch. Sie sind halt anders, die Ruhrpottler. Angenehm entspannt, kein gespreiztes Gehabe, Orchideenblüten kommen gar nicht erst zur Entfaltung, mit anderen Worten: alles normal und jede(r) kann mit jedem. Die Spitzen fehlen, Zugereiste laufen hier im Alltag mit, man redet miteinander, die Häubchen fehlen, alles ist unaufgeregt und - bei heiterem Optimismus - auf die Frage gerichtet, wie geht’s denn morgen weiter. Die Antwort: die Ruhr und die Wupper rührt nix an, uns ooch nich, ’s wird schon. Der Berliner hat - gegen jede Empirie - eine andere Antwort parat: morgen wird allet schlimmer. Das potthäßliche Hagen wuchert mit neuen Pfunden. Wiedereröffnet wurde das Osthaus-Museum. Zwei Sammlungen finden im erweiterten und einem neuen Gebäude Platz: Emil Schumacher und Christian Rohlfs, beides Hagener Künstler. Ein ebenso spannendes wie seltenes Kleinod hat nach der Wiedereröffnung eine größere Heimstatt bekommen. Sigrid Sigurdssons „Raum der Stille“ ist in der ehemaligen Bibliothek des Altbaus unter dem Titel „Die Architektur der Erinnerung - Das Museum im Museum“ neu und größer erstanden. Seit 1988 gibt Sigurdsson den Phänomenen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ einen visuellen Ausdruck. Die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bildet dabei den inhaltlichen Schwerpunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Der in den Jahren gewachsene und weiter wachsende Bestand liegt in Form dickleibiger Folianten vor und kann eingesehen werden. Der Clou: es liegen leere Folianten bereit, die Besucherinnen für drei Jahre entleihen, mit eigenen Themen füllen können, zurück in den Bestand des Museums geben und dem Publikum zur Verfügung stellen. Eine andere, "gediegene" Form der Bloggerei, die ernsthaftes Interesse und Arbeit erfordert. Eine Aufforderung!?!


Ein verkaufsoffener Sonntag wird in Wuppertal wie ein Volksfest begangen. Vom Hauptbahnhof hoch zum Rathaus schiebt sich dichtgedrängt die Menge, ganz entspannt und ohne Hast, Schlangen bildend vor Eis- und Pommes-Ständen, mit einer Engelsgeduld, freundlich und aufeinander bezogen. Faszinierend. Was erschreckt, ist, die Städte im Westen haben in all den Jahren Patina angesetzt. Alles sieht ein bisschen - sogar ein bisschen mehr als bisschen - grau in grau aus. Farbe fehlt bzw. das Geld, um die Hütten mal aufzuhübschen. Das schreit geradezu nach einem weiteren Konjunkturprogramm. Passend dazu schlenkert die Schwebebahn - Deutschlands einziges Hängemuseum im Livebetrieb mit Publikumsbeteiligung - dann die Mutigen von Bahnhof zu Bahnhof. Ein Erlebnis, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Mobilität im ästhetischen Gewand des 19.Jahrhunderts. Mitten über der Wupper.

1 Kommentar:

  1. Ahoi Christoph!

    ... es ist (fast) überall schön wo wir nicht sind.

    ... und am Schönsten, ... ganz weit weg, am besten mit one-way-tiket.

    Grüße


    Herb

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