Freitag, 22. Mai 2009



In einem ist sich alle Kunst - auch die Fotografie - einig: sie be- und verarbeitet, darin schlicht der Arbeit und dem Handwerk verwandt. Sie bedient sich des vorfindbaren Materials. Was immer es ist. Ob sichtbar, hörbar, fühlbar, sprechbar, tanzbar, behaubar. Ist nichts da, kann nichts verarbeitet werden. Diesen Weltzustand haben wir noch nicht erreicht. Was die Einzelne sieht, aufgreift, in die Hand nimmt, zurichtet, verändert und in Form bringt, spielt zunächst keine Rolle. Die Veränderung von Form, Substanz, Farbe und Gehalt, mit welch Medien und Werkzeugen auch immer, ist das Entscheidende. Ein Ergebnis "steht in der Welt". An dieser Stelle verzweigt sich, was wir "Betrachten" und "gelehrte Rezeption" nennen. Letztere beschreibt, diskutiert, legt Maßstäbe an und „gießt in Formen“, was als Stil durch Zeit und Raum wiedererkannt und mit „Namen“ - heute würden wir sagen, mit einem Label - benannt und belegt werden kann. Die Betrachterinnen - ob mit Wohlwollen oder nicht - betrachten, beobachten, genießen, besprechen, sind hingerissen, empört oder wenden sich gelangweilt ab. Der Zugang zum Werk ist alltagsbezogen und folgt kunsttypischen Konventionen des Gelingens oder der ästhetischen Angemessenheit. "Betrachten" und "gelehrte Rezeption" verhalten sich wie 1. und 2. Wahrnehmung zueinander. Damit ist keine Wertung gemeint. Eine 3. Wahrnehmung kommt in’s Spiel, wenn Künstlerinnen eigene Impressionen zu ihrem Werk, ihrem Programm oder ihrer Arbeitsweise zu Protokoll geben. Die ‚Lücken’, die zwischen diesen Wahrnehmungen entstehen, finden wir u.a. wieder in zwei „Figuren“, die die „Verbreitung“ von Kunst heute begleiten: „Überbieten“ und „Aufladen“. Zwei Modi, die der Vermarktung folgen und in aller Regel nichts mit den Werken selbst tun haben.
Beispiel (1): „Überbieten“. Wolfgang Zurborn macht hervorragende Fotos. Zur Serie "Drift" schreibt er: „Mit meiner Fotografie verfolge ich kein fest definiertes Ziel, ich lasse mich ein auf eine „Drift“ im Fluß der uns täglich umgebenden Reize und konstruiere mit dem Zusammenspiel der Bilder ein komplexes Netz von Assoziationen, die den Betrachter sensibilisiert für subtile Veränderungen von Wahrnehmungszuständen.“ Der Beschreibung seiner Arbeitsweise lässt sich problemlos folgen, zwiespältig ist die „Aufgabe“, die er der Betrachterin zuschreibt. Die subtile Veränderung von Wahrnehmungszuständen beschreibt eine „innere Wirklichkeit“, die allenfalls dem Künstler zugänglich ist. Die Betrachterinnen sind beschäftigt mit dem Bild als Bild. Das zeigt, dass hier jemand experimentiert, ungewöhnliche Zusammenhänge durch Montage und Schnitt erzeugt, neue Bild-Wirklichkeiten konstruiert. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das regt an, weckt Interesse, lässt erstaunen, führt zum Nachdenken, lässt anders und - vielleicht - neu wahrnehmen. „Reich“ ist das Bild, das reicht.
Beispiel (2): „Aufladen“. Die Berliner Gemäldegalerie hatte jüngst unter dem Titel "Rothko / Giotto" drei Bilder ausgestellt. Die Beschreibung liest sich so: "An Giotto interessierte Rothko insbesondere die Fähigkeit, Bildraum und Handlung über das Kolorit zu organisieren. Das Konzept der "Berührbarkeit" (Taktilität, tactility) spielt dabei eine wesentliche Rolle: Wie es Giotto gelungen war, nicht nur unterschiedliche Materialitäten sondern auch das Spektrum menschlicher Konditionen greifbar zu inszenieren, so versuchte auch Rothko seine Farbkonstellationen zu verdichten, auf dass sie für den Betrachter zu bewegter Handlung, zu Erfahrungsräumen, würden. Zeitlebens bestand er darauf, dass seine Gemälde keine abstrakte Malerei darstellen." Lassen wir mal die gespreizte Sprache beiseite, ohne die keine Kunstpräsentation heute meint auskommen zu können. Was war in dieser Ausstellung zu sehen. Drei Bilder. Zwei von Giotto di Bondone ("Marientod" v. 1310 und "Kreuzigung" ca. 1315), eins von Rothko („Reds no. 5" v. 1961). Die Bilder, jedes für sich, sind wunderbar und allemal die Zeit eines Ausstellungsbesuches wert. Die in’s „kleingewebige“ gehende Vergleichs-Analyse von Farben und Formen der drei Bilder, wie der Ausstellungskatalog sie anstellt, "laden" die Ausstellungsmacher "auf" zu einer „Entdeckung“: "auf formaler, kunsttechnologischer und theoretischer Ebene", schreiben sie, "wird Rothkos Orientierung an Paradigmen der italienischen Kunst, besonders mit Blick auf Giotto, beleuchtet und durch eine pointierte Fallstudie belegt." Bis dato wurde Rothko's Schaffen "in Beziehung zur Landschaftsmalerei der Romantik" gesehen. Beleg? Jüngst erst verlegte Äußerungen des 1970 verstorbenen Künstlers. Was sagen diese aus: Hier hat sich ein Maler Gedanken gemacht. Kluge, inspirierende, nachvollziehbare und anregende. Sein Werk, seine Arbeit hat - so gibt er uns zu verstehen - profitiert von ‚der Vertiefung’ in die frühe italienische Malerei. Das war’s auch schon. Die Schlussfolgerungen, die die Ausstellungsmacher anstellen, sind durch die Bilder nicht gedeckt. Einmal in Fahrt, lassen sie uns im Umkehrschluß auch noch wissen, dass das neu entdeckte Interesse Rothko’s an der italienischen Renaissancemalerei „ebenso die außerordentliche Modernität Giottos (unterstreicht)“. Hier wird mit großem wissenschaftlichen und publizistischen Aufwand ein ‚Überwältigungsdiskurs’ in Szene gesetzt. Ärgerlich, weil jeder Versuch, alte wie neue Malerei einem „normalen“ und auch jüngeren Publikum zu erschließen, an dieser Form von "Schulmeisterei" Schaden nimmt. Wer hat schon Lust vorgeführt zu werden: Etwas sehen zu sollen, was nicht zu sehen ist.

Samstag, 9. Mai 2009

Neuköllner Straßenleben


„Ich wohne in der Donaustraße.“ Schreibt Keith, Schüler der 5. Klasse. „Diese Straße liegt in Berlin-Neukölln. Sie ist ziemlich lang. Ich lebe hier gerne, aber wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich woanders hinziehen. Die Straße ist nicht gerade sauber, und es gibt viele Kneipen, in denen es oft sehr laut ist. Manchmal streiten sich Leute auf der Straße, und die Polizei muss verständigt werden.“ „Meine Straße“ - Kasmin, 4. Klasse, spricht ebenfalls von der Donaustraße - „ist groß und die Straße gefällt mir. Neben unserer Straße ist ein Eisladen, und da gegenüber ist das Forum, und darüber ist ein achtundneunzig Pfennig Laden. Wo ich über die Straße gegangen bin, da war ein besoffener Mann mit einem Hund.“ Der Blick, den Kinder auf ihre Umgebung werfen, die Art, in der sie Nähe herstellen, Vertrautheit beschreiben, Irritationen aussprechen, Orte markieren, Orientierung und emotionale Bindung suchen, gibt Auskunft darüber, wie wir uns einrichten. Straßen, Städte, Lebenswelten. Für Kinder der Nahraum für Entdeckungen, Streifzüge, eingehegte wie freigelassene Phantasien auf der einen, Zumutung ohne ausreichende Spiel- und Erprobungsmöglichkeiten, auf Verkehr und Mobilität angelegt, auf der anderen Seite. Eine Ahnung vom Zustand unserer Straßen und Städte bekommt, wer die Seite des Projekts „Kinderstraße“ besucht. Sie ist nicht neu und auch nicht frei von „schulischen Anmutungen“. Die kurzen Texte geben einen Blick auf Straßen frei, wie Kinder sie sehen. Ein Projekt, das die Schreibfähigkeit und den Umgang mit Texten fördern will. Daher rühren die knappen, teils redundanten und - wie sollte es bei Kindern der 3. bis 6. Klassen auch anders sein - ein wenig ungelenk wirkenden Beschreibungen. Es fehlt die Beweglichkeit und Spontanität, die Kinder auszeichnet. Hier hätten nur Gesprächsaufzeichnungen und Interviews Abhilfe schaffen können. Ein Aufwand, den ein Projekt mit dieser Reichweite nicht bewältigen kann. Dennoch sehr lesenswert und instruktiv.

Sonntag, 3. Mai 2009

Marktmagd


Foto-Kryptik und Modefotografie haben auf den ersten Blick wenig miteinander gemein. Modefotografie ist Magd. Magd des Marktes. Sie will und muß verführen. Dafür wird sie bezahlt. Aufreizen, zum Kauf animieren, betäuben, sichtbar machen, in Szene setzen. Sie spielt und webt mit und an Raum, Körper, Stoffen, Farben, Formen, Assessoires. Damit prägt sie Zeitgeist, facht Formbewußtsein an, bebildert Kleidungs-Kultur, Geschlechterverhältnisse und organisiert Erinnerungen. Kryptisch ist sie notgedrungen, weil sie nie weiß, ob das, was sie macht, wirkt, verstanden wird und Bestand hat. Auf die Frage, warum er (Mode)Fotograf geworden ist, antwortet Nick Knight:
"Bestimmt nicht, weil ich den Menschen zeigen will, wie ich die Welt sehe. Schon eher, weil ich selbst etwas sehen will, das ich noch nicht gesehen habe. Das ist ja ein klassisches Mißverständnis in Bezug auf die Fotografie: dass Fotografen das abbilden, was sie sehen. Richtig ist: Als Fotograf sieht man in dem Moment, in dem man den Auslöser drückt, selbst noch nicht das Bild, was man gerade aufnimmt. Es gibt den Moment, in dem die Blende zuschnappt - doch dazwischen passieren allerhand Dinge, die erst auf dem Abzug sichtbar werden. Als Fotograf tut man also gewissermaßen nichts anderes, als einem Moment zuvorzukommen." *
Die Haltung macht's.
(Teil VI)
* Spex, Heft #320, 05-06