Samstag, 30. Dezember 2023

Dienstag, 26. Dezember 2023

Freitag, 22. Dezember 2023

Neuköllner Kosmologie


 

Betreutes Sehen

Um die Urteilskraft, um die ästhetische insbesondere, scheint es schlecht bestellt zu sein. Ist es Mißtrauen? Sind es lediglich wohlmeinende Hinweise, Einführungen? Ist zum besseren Verständnis gedacht, was mit wohlgesetzten Worten Leitplanken auslegt, damit BesucherInnen eine Ausstellung gefahrlos überstehen? Lange vorbei die Zeit, als Kunstausstellungen sich mit einem Katalog begnügten, der gekauft und zuhause gelesen wurde, der im Nachhinein das Gesehene kunstgeschichtlich einordnete, Zeitgeschichtliches notierte, für Arbeitsweise und Motive der KünstlerInnen Erhellendes beisteuerte und auf interessierte LeserInnen setzte.

Solvej Helweg Ovesen kuratiert. Sie ist streng. Sie weiß, wie die Kunst ihren Platz in einer komplexen Welt behaupten kann. Ihre Aufgabe, die der Kunst, sagt sie, besteht darin, „Raum für die Sichtbarmachung, das Bewusstsein, das veränderte Selbst und die Energie für die notwendigen Übergange“ zu schaffen. Das ist mal eine Ansage! Worauf sie sie gründet?  Da „Systeme, Natur, Institutionen und Biopolitik im Begriff sind, sich aufzulösen, und die Gesellschaft sich innerhalb oder nach der gegenwärtigen Polykrise neu formt, stehen wir vor der Herausforderung, unsere Kompetenzen und unser Leben zu verändern, um vielfältiger und polyvalenter zu werden.“ Wohin, warum, von wem angestoßen, zu welchem Zweck, mit welchen Folgen, erklärt sie uns nicht.

Es ist die Gesellschaft, die sich neu formt. Eine - unsere - Beteiligung ist nicht gefragt, Anpassungsleistungen sind gefordert: wir müssen vielfältiger und polyvalenter werden. Ein Ausstellungsbesuch als Läuterung und Lebensberatung? Ein Ausstellungsbesuch, der uns zeigt, ob wir das Zeug dazu haben, künftig Polyvalenz zu leben oder doch eher im Wege stehen, wenn es gilt, Übergänge in eine schöne neue Welt zu finden?

Die Künstlerinnen sind da - Kunst sei Dank, möchte man sagen - entspannter. Sie widerstehen dem Impuls, ihren Objekten eine Allzuständigkeit aufzubürden. Sie machen, zeigen und stellen aus, was KünstlerInnen schon immer gemacht, gezeigt und ausgestellt haben. Mit mal mehr, mal weniger Material, opulenten wie verhaltenen Farben, behauenem, gewebtem, gewickeltem, gedrechseltem, bedrucktem Stoff, Ton, Stein, figurativen Elementen, medialen, mal interaktiven, mal rein rezeptiv angelegten Produktionen und performativen Elementen.

So individuell die Objekte, so wenig gehorchen sie der ausgerufenen Marschrichtung. Mal verspielt, mal ver-rückt, mal raum-greifend, mal viel-schichtig und vielgesichtig, apellieren sie an Offenheit und Neugier. Dass die eine oder andere Künstlerin ihr ästhetisches Schaffen als 'Vorschein' auf Künftiges, als Kommentar oder Frage zum fragilen Zustand moderner Gesellschaften anlegt, macht aus einer Ausstellung kein Seminar. Also: Hingehen, sich von 'betreutem Sehen' freimachen und dem ästhetischen Eigensinn der Ausstellungsobjekte wie der Lust, sich verführen, ent-grenzen und/oder ent-täuschen zu lassen, folgen. 

 

Montag, 18. Dezember 2023

Donnerstag, 14. Dezember 2023

Sonntag, 10. Dezember 2023

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Samstag, 2. Dezember 2023

Dienstag, 28. November 2023

Freitag, 24. November 2023

Montag, 20. November 2023

Stiller Klang


Gibt es sie? Stille? Sollte sie nicht 'unhörbar' sein, das will das Wort Stille uns doch sagen? Bloße Leere zwischen Geräuschen? Kann darüber anders als in Umschreibungen gesprochen werden? Dass es weitere Wege gibt, zeigt uns Océane Moussé. Sie nimmt Graphitkreide und Tusche zu Hilfe und trägt auf weißes Papier großflächig aber 'feinstgliedrig' - in Schattierungen vom zarten Grauton bis zum tiefen Graphitschwarz - Schichten über Schichten, Strich neben Strich oder fortlaufende Sätze auf, bis Landschaften entstehen, Bewegung und Objekte. Dass das eine nicht im anderen verschwindet ist die hohe Kunst des Verbindens, Verwischens, Verschränkens, 'Ineinanderwebens'. Was Ausgangspunkt war, bleibt Teil des Bildes, selbst wenn der erste Blick dies nicht nahelegt. Was das mit Stille zu tun hat?

 

 

„Ich werde nicht mehr stören“ ist ein Satz, aus frühen Schultagen manchen noch geläufig, der an die Tafel oder im Heft in unzähligen Wiederholungen zu schreiben war. Eine Strafarbeit. Das unbotmäßige Kind sollte lernen, 'still zu sein', sich zu äußern - laut zu werden - nur dann, wenn es gefragt wird. Océane Moussé bringt den Satz hundertfach auf Papier, bearbeitet das aufgetragene Material und erschafft ein Bild in Form eines Triptychons. In Nahsicht tauchen die Sätze wieder auf, mit Abstand stehen wir vor einer Landschaft mit vom Wind gebeugtem Schilfrohr. Kinder, so könnte diese Erzählung lauten, sind flexibel genug, der Stille zu entkommen. „Daß mich die Winde wenig kränken, ich beuge mich und breche nicht“, lässt Jean Fontaine in seiner Versfabel 'Die Eiche und das Schilfrohr' das Schilfrohr sagen. Widerständigkeit gegen Zurichtung, Standhalten trotz widriger Umstände, Klugheit und Witz statt 'Steifnackigkeit und Trotz' bergen ein tröstliches Versprechen, das Mensch wie Natur verbindet: Stille, nicht zu verwecheln mit Ruhe und Entschleunigung, ist endlich. Und sie hat, wie uns Océane Moussé in vielen Varianten zeigt, viele Klangfarben.

Für Kurzentschlossene. Da nur noch bis zum 26.11. im Saalbau Neukölln zu sehen und zu hören!

 
 


Neuköllner Brise


 

Donnerstag, 16. November 2023

„Wir atmen doch, wir verändern uns!“ (S. Beckett) III

 In Räumen denken

Pasolini führt keine Verletzungen vor. Pasolini setzt in seinem Film „Teorema – Geometrie der Liebe“ die Institution Familie einem Säurebad aus. Verletzungen setzen Kommunikation und Auseinandersetzungen voraus. Diese Familie, einschließlich der einzigen Hausbediensteten, verharrt in Sprachlosigkeit. Der Film, wie auch der Roman, ist ein '68'er - Kind'. Kapitalismus - das auf Ausbeutung beruhende Haben, Besitzen,Verwerten - und die inneren wie äußeren Bande menschlichen und unverstellten Zusammenlebens, Begehren, Wünsche, Vertrauen, in der als Chiffre zu verstehenden Sexualität verdichtet, können und kommen nicht zusammen. Dies die Ausgangslage, das Ausgangstheorem, die Versuchsanordnung von Pasolini. Die Oper von Batistelli, seit Juni auf dem Spielplan der Deutschen Oper Berlin, muss im Heute, 55 Jahre sind seither vergangen, ankommen.

Wir sind mehrfach gefordert. Wir folgen im ersten Teil einem eher traditionellen Musiktheater in zweistöckiger, mit jeweils vier Räumen - Küche, Esszimmer, Schlafzimmer, das Zimmer der Tochter - ausgestatteter Kulisse. Karg eingerichtet, aber opulent und farblich raffiniert ausgeleuchtet. Das Szenengeschehen, sparsam in den Bewegungen, fast schattenhaft wirkend, wird immer wieder - wir kennen dies aus dem Theater - live mitgeschnitten und zeitgleich auf Leinwand projiziert. So werden den Spielszenen Goßaufnahmen der Familienmitglieder in Schwarzweiß hinterlegt. Die Regie eröffnet einen weiteren Raum. Wir schauen parallel zum Handlungsgeschehen einem Forschungsteam in sterilen Laboranzügen zu. Wir beobachten die Beobachter so lange beim Beobachten, bis sie Entscheidungen treffen und ins Spiel eingreifen. In die 'Versuchsanordnung' schicken sie einen der ihren als Besucher. Der mischt auf, bietet sich und seinen Körper als Gespielen an und erweckt die Familienmitglieder aus ihren Erstarrungen. Das und was sich ändert erfahren wir - neben Gestik und Spiel - über Daten, die, auf Gaze projiziert, Auskunft über den (Gesundheits)Zustand - Puls, Blutdruck, Körpermaße - der Beteiligten übermitteln. Die Forscherinnen und Forscher sind es im Übrigen, die die Gesangsparts übernehmen, mit denen sie nach und nach ins Geschehen musikalisch intervenieren. Sie sind es auch, die im zweiten Teil der Oper in die Rollen der Familienmitglieder schlüpfen.

Nach Abreise des Gastes geben im zweiten Teil der Oper - vor und in nach und nach entleerten Räumen - Filmprojektionen mit bewegten Horizonten und 'laufenden' Landschaften den Rahmen für allerlei Versuche, den neu gewonnenen Freiheiten im alten Familienkorsett Raum zu geben. Nichts davon gelingt. Die Familienmitglieder enden schließlich in Wahnsinn, Promiskuität, Heiligsprechung und ziellosem Künstlertum. Es ist der Vater, nackt und bloß, aller Habe entledigt, allein in der Wüste, der mit einem verzweifelten, abgrundtiefen Schrei das Werk beendet.

 


 

„Giorgio Battistelli, dem Grandseigneur der italienischen Gegenwartsmusik, ist,“ so schreibt Roland Dippel in seiner Besprechung zur Aufführung, „etwas Außerordentliches gelungen.“ Und weiter: „Mit feinsten Streicherlinien, aus vielfältig schattierenden und fluoreszierenden Soli der Hörner, der Hölzer und Farben wie zum Beispiel eines Akkordeons, das in der Orchesterbesetzung gar nicht aufscheint, entsteht Battistellis Musikstrom.“ Ich lasse das so stehen, da ich weder Musikwissenschaftler bin noch jemals die Feinhörigkeit und die passenden Worte aufbringen werde, um etwas so schön formulieren zu können. Insbesondere Strom scheint mir der passende Begriff, weil die Musik - ohne zu überwältigen - durchgehend treibt, stimmig trägt, richtet wie koloriert, fließt und perlt, Hindernisse in Form von Stromschnellen überwindet, an die Ufer ausweicht und mäandert, unerwartet Fahrt aufnimmt und dann wieder staut, wo Geröll den Weg verengt. Es geht, daran scheint kein Zweifel, stromabwärts, dem Meer entgegen. Schicksalhaft? Wohl nicht, wir bleiben ja Beobachter und entgehen dem Schicksal des Forscherteams, dass sich in seinem Objekt schließlich verliert, mit ihm eins wird. Wir verlassen das Theater in der Gewissheit, dass wir „an (unserer) Geschichte weitermachen, sie beenden und eine andere anfangen“ können.

Glück gehabt

Wo früher gebraut wurde, was (Arbeiter)Kehlen spülte und den Alltag vergessen ließ, ist heute sinnliche Anregung zu finden. Gemälde, Skulpturen, Installationen, Video und Film, Lesungen und Perfomances. 'Kulturgüter', Bier wie Kunst, früher und heute. Zuviel davon 'macht Kater'. Wohl temperiert und sorgsam zubereitet, bergen sie Glücksversprechen. So zuletzt (im Juli/August), berückend und berührend, die Oper "As If NoMisfortune Had Occurred in the Night" von Larissa Sansour und Søren Lind.

Uns empfangen zwei stark abgedunkelte Räume, zwar getrennt, aber klanglich miteinander verbunden. Im ersten schauen wir auf eng von der Decke hängende Bäume, einen Wald andeutend, über einem großen, flachen, mit Wasser gefüllten Becken. Nichts, was sich sofort und von selbst erschließt. Zu hören ist bereits der Gesang von Nour Darwish. Der irritiert, fasziniert und zieht an. Im zweiten Raum folgen wir ihr in einer groß projizierten, dreikanaligen Videoarbeit durch die gut 20minütige Oper. Deren Herzstück ist die Verbindung des palästinensischen Volksliedes Al Ouf Mash’al mit Gustav Mahlers Kindertotenliedern. Hier gehen europäische Musiktradition und die volkstümliche arabisch-palästinensische Tradition eine beglückende Liaison miteinander ein. Beide raumgreifend und hörbar selbstbewußt, dann ineinander verwoben, aufeinander antwortend und schließlich im Wechsel von Chor und Sopranistin im "Call und Response Modus". Beide Werke beklagen den Verlust von Kindern. Hier die Mutter, die ihren Sohn in den Kriegsdienst für das Osmanische Reich ziehen sieht, dort der Verlust zweier seiner Kinder, die der Dichter Friedrich Rückert in Gedichten beklagt, die Mahler schließlich vertont. Die Videoarbeit bezieht dokumentarische Aufnahmen aus diesen Zeiten ein.

Wir versuchen, sagt Larissa Sansour, „einen neuen Blickwinkel ein(zu)nehmen, um Licht in einen politischen Diskurs zu bringen, der in eine Sackgasse geraten ist.“ Wir wollen, sagt sie weiter, „einen eigenen Raum (...) schaffen, in dem diese Themen (Krieg, Tod, Vertreibumg, Verlust und Trauer) auf eine andere Art und Weise besprochen werden können.“ In einer 'in Echtzeit' verbundenen Welt sind lokale politische Probleme, ob wir wollen oder nicht, immer auch universelle Probleme. Sie gehen uns alle an. Die Arbeit von Sansour und Lind könnte daher nicht aktueller sein. Warum? Wir stehen am Rande eines dritten Weltkrieges. Ausgang ungewiß. Ein Übergang? Der Tod von Kindern - ob durch Krieg oder Krankheit - zeigt an, was im Kleinen wie im Großen fehlen wird: Zukunft. Ob die Männer und Frauen der 'Kriegswirtschaft' sich durch diese, Trauer und Trost, versöhnliche Töne mit tiefer Melancholie verbindende Musik anrühren lassen, darf man bezweifeln.

Vor 100 Jahren, erfahren wir, haben die Palästinenserinnen ihre besten Kleider in Indigo gefärbt, anstatt Schwarz zu tragen, wie sie es heute tun, wenn sie in Trauer sind. Die Sängerin, so endet die Videoarbeit und erklärt die bereits erwähnte Rauminstallation, tut es ihnen nach. Ihr weißes Kleid nimmt, nach einem Bad, Blauton an. Indigo besitzt eine hohe Farbstärke und ist in Wasser schwer löslich. „Es ist“, läßt uns Larissa Sansour wissen, „eine Art Symbol dafür, das man den Schmerz nie wegnehmen kann, dass er immer bei einem bleibt.“

Was ist?

„Es ist ein langer Weg dahin, wo keiner mehr weinen muss“, schreibt das PR-Blatt zur Musical-Aufführung in der Neuköllner Oper. „Schön, dass Sie ihn mit uns gemeinsam gehen!“ Da will ich denn doch ein bisschen gegenhalten. Das Leben um das Weinen gebracht, hieße, Wein ohne Trauben gewinnen zu wollen. Wer will das trinken? Trauer, Mitgefühl, innere Rührung, Verschwisterungen nach Zerwürfnissen und vieles mehr sind ohne Weinen nicht zu haben. Reibung, soziale Konflikte, Trennungen, das immer wieder neue Austarieren tragfähiger und strittiger Lebensmodelle und auch Schmerz und Tod gehören untrennbar zum Leben dazu. „Tod und Sterben sind Vollzüge des menschlichen Lebens, in denen der Mensch, soweit sein Leben an der Humanität teilhat, im Tiefsten mit Anderen verbunden ist.“ (E. Angehrn, Vom Anfang und Ende, Frankfurt a.M. 2020, S. 209) Eine Erziehung zur 'Kriegstüchtigkeit' löst diese Verbindung auf. Ihr ist der Andere ein Feind.

 

          „Niemand auf der Welt“, lässt Beckett Clov traurig sagen, „hat je so verdreht gedacht wie wir.

          Hamm: Man tut, was man kann.

          Clov: Man hat unrecht.

          Hamm: Du hältst dich für gescheit, nicht?

          Clov: Gescheitert!“

 



Mittwoch, 15. November 2023

„Wir atmen doch, wir verändern uns!“ (S. Beckett) II

 Von weiter her

Lesen bildet, heißt es. Vorlesen gibt etwas dazu. Es verleiht dem Text einen 'Klangkorpus'. Dem Singen verwandt. Vorlesende akzentuieren und modulieren mit ihrer Stimme, 'laden' Sätze auf und bieten Interpretationen an. Aus einem inneren Zwiegespräch mit dem Text wird hörender Nachvollzug. Der fordert eine andere Konzentration. Das Gehörte ist flüchtig, ein Nachlesen, wenn etwas unklar bleibt, nicht möglich. Die Beziehung zum Text wird überlagert von der Beziehung zum Vorlesenden und seiner/ihrer Stimme. Ist diese warm oder enervierend, klar in der Aussprache, hält sie ein Tempo ein, das dem Verstehen, Behalten und Erinnern engegenkommt, konnte sie gegebenenfalls langweiligen Passagen Witz und Tempo abringen, bot sie Kraft und Anregung für Phantasie, 'verlebendigt' sie den Text und 'berührt' er durch die Stimme? Mehr Fragen als Antworten: Theater eben, diesmal in der Berliner "Schaubühne".

Ein Dokumentarfilmer und Regisseur (Christian Tschriner) läßt in einem Tonstudio eine Schauspielerin (Isabelle Redfern) zu seinem Bildmaterial, im Hintergrund auf große Leinwand projiziert, Textauszüge aus Didier Eribon's Buch "Rückkehr nach Reims" einlesen. Ein Toningenieur (Amewu Nove) stellt dem finanziell klammen Filmemacher für einen geringeren Stundensatz Studiozeit in den Abendstunden zur Verfügung. Eine fast intime, ruhige Szenerie, unterbrochen von immer wieder aufflackernden Gesprächen und Auseinandersetzungen. Diese lösen sich schnell vom Text und verhandeln, was auch Eribon umtreibt. Der 'Vorleserin' folgen wir gerne. Ihre Stimme hat's, sie kann's.

Das Buch habe ich nicht gelesen. Ich erfahre und schaue durch den Filter von Thomas Ostermeyer, verantwortlich für die Inszenierung. Worum geht es? Um familiären Zwist, Abkehr, um Scham und sexuelle Selbstbestimmung. Sozial gerahmt in Klasse, sozialkulturellem Milieu, politischer Parteienkonstellationen und französischer Noblesse. Ein Mix aus linker Soziologie, Klassenkampf, französischer Nachkriegsgeschichte, dem Wandel kultureller Identitäten und Aufbruch. Die Lesung geschickt kombiniert mit Filmeinschüben und diskursiv-spielerischen Elementen. Letztere loten die Bandbreite sozialer und gesellschaftlicher Diskriminierung aus, in den 50'ern bis in die 80'er Jahre hinein noch weitgehend identisch mit Grenzziehungen entlang sozialer Klassenlagen. Die Soziologie hat die doppelte Funktion der sozialen Scham darin verstanden, dass sie die Beschämten herabsetzt und sie im Empfinden der Scham die eigene Unterordnung unter andere anerkennen lässt. Beschämung, moralische Selbstverurteilung und Achtungsverlust als Teil der formellen wie informellen sozialen Kontrolle sind geläufige Strategien, um soziale Ungleichheit, Statuspositionen und Machtansprüche zu behaupten. Klasse und Milieu bieten einiges auf, um über Kultur und Politik Formen der Selbstbehauptung zu etablieren und eigene Machtansprüche zu formulieren. Geraten erstere in den Malstrom von Enttraditionalisierung und Individualisierung fehlen die kollektiven Antworten. Arbeit verändert ihren (vormals 'klassensozialisierenden') Charakter, Milieus verschwinden, politische Orientierungen geraten ins Wanken, familiäre Bande lösen sich auf, Quartiere und Städte wandeln ihr Gesicht, Armut diffundiert in Folge laufender und wachsender Zuwanderung. Eine doppelte Front eröffnet Eribon zudem mit seinem Bekenntnis zur Homosexualität, in Fremd- wie Herkunftsmilieu in den 60er- und 70er-Jahren gleichermaßen geächtet. Der Bruch mit dem Vater ist darüber und über dessen Tod hinaus nicht heilbar. Zuück bleibt ein auf sich selbst zurückgeworfendes, mit seinen Verletzungen beschäftigtes Subjekt.

 


 

Die Konstellation auf der Bühne darf man dankbar nennen. Ein nicht ganz so alter, aber doch 'weißer Mann' im Gespräch mit zwei, wie es heute heißt, 'PoC's'. Die Positionen sind verteilt, bringen Dringlichkeit und Farbe in immer wieder aufflackernde Debatten. Der Regisseur hofft, mit seiner Deutung von Text und Bild fraglos zu bestehen, die Schauspielerin leistet mit dem Einsprechen einen Freundschaftsdienst, der Toningenieur macht mit Sonderkonditionen die Aufnahmen und Fertigstellung des Films erst möglich. Nicht das 'Band des Geldes' bringt sie zusammen, sondern ein unausgesprochenes Interesse an der Sache. Das schafft eine 'Duldungspflicht', soll das Projekt gelingen. Die Schauspielerin nimmt sich das Recht heraus, alternative 'Passungen' von Text und Bild vorzuschlagen, der Toningenieur, mit Verweis auf familiäre Pflichten, fordert diszipliniertes Arbeiten ein, der Filmemacher, zunächst verschanzt im „Mansplaining“, geht nach und nach, mit Gewinn für sein Projekt, auf Einwände und Anregungen seiner MitstreiterInnen ein. Das öffnet Raum, um auf der Vorlage von Eribons Text zwanglos eigene Diskriminierungserfahrungen einfließen zu lassen. Sprachlich faszinierend und sehr dicht in den 'Rapeinlagen' des Toningenieurs, anrührend in der Familiengeschichte - ebenfalls eine Vatersuche - der Schauspielerin.

Wir verlassen das Theater mit der milde stimmenden Annahme, dass die Klagen (von Minderheiten und Gruppen) mit Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass das Grundgesetz uneingeschränkt Gültigkeit besitzt. Ihre legitimen und selbstbewußt vorgetragenen Ansprüche fußen auf der - derzeit immer noch und immer wieder enttäuschten - Erwartung, den ihnen zustehenden Status als Bürgerinnen und Bürger mit Selbstverständlichkeit und allen politischen, ökonomischen, sozialen Rechten im Alltag leben zu können. Aber auch das nehmen wir mit: Soziale Grenzen werden durchlässiger - nicht zu verwechseln mit offenen Aufstiegsoptionen, Macht und Einfluß - und quer zu ihnen organisieren sich soziokulturelle Gemeinschaften, denen selbstgewählte wie zugeschriebene 'Werte', Identitäten und ethnische Zugehörigkeiten Halt und Orientierung geben. Unser Bühnentrio gibt ja im kleinen ab, was in Arbeitszusammenhängen mittlerweile Alltag geworden ist. Teamarbeit in flachen Hierarchien und 'multikulturellen Kollegien'. Keine 'herrschaftsfreien Räume', aber Arrangements, die den Beteiligten Abstimmung, Konzentration auf die 'gemeinsame Sache' und wechselseiten Respekt und Anerkennung abnötigen. Anders formuliert: Wer 'System' ruft, muss beantworten können, wie im Alltag Befriedung hergestellt werden kann. Wer 'Strukturen' nicht kennzeichnet, begibt sich der Chance, substanzielle Veränderungen herbeizuführen. Die wird es nur im politischen Raum geben.

 

Dienstag, 14. November 2023

„Wir atmen doch, wir verändern uns!“ (S. Beckett) I

Kommt was? 

Wir leben in einer Zeit "des" Übergangs (manche sprechen von Zeitenwende). Ist das eine Behauptung? Eine Überzeugung? Übergang wohin? Fühlt man ihn? Wer oder was löst ihn aus? Gibt es Hinweise, Zeichen, Belege? Beunruhigt uns das, was wir glauben, sehen zu können? Ist er, "der" Übergang, schon mit dem Aussprechen in der Welt? Brauchen wir ihn als Selbstvergewisserung, dass etwas in Bewegung ist? Dass wir in Bewegung sind, noch am und im Leben? Wer hilft beim Entziffern von Zeichen? Und wieviel Deutungen halten wir aus, ohne die Übersicht zu verlieren? Ist Verständigung möglich bei einem vielstimmigen Chor und unzähligen Sprachen? Hilft Orientierung aus zweiter Hand? Wer könnte diese bieten? Die Soziologie, der jüngst mehrfach „dramaturgische Anschlussfähigkeit“ beschieden wurde? Sind es die Künste, die als Seismographen und Boten gelten, die "dem" Übergang Ausdruck verleihen, ihn bearbeiten, in Herkunft, Gestalt und Wirkung verständlich machen können? Viele Fragen, fünf Antworten, keine Lösungen.

Am Anfang

„Ende, es ist zu Ende“, lässt Beckett Clov am Anfang seine Dramas 'Endspiel' sagen. Und weiter: „es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende. Ein Körnchen kommt zum anderen, eins nach dem anderen. Und eines Tages, plötzlich, ist es ein Haufen, ein kleiner Haufen, der unmögliche Haufen.“ Das sieht, wenn man es recht bedenkt, nicht nach Ende aus. Eher nach einem Räsonieren, einem es könnte, es hätte, es würde, ohne die Unbedingheit, die Gewissheit, das es vorbei ist. Ein 'unmöglicher Haufen', seien es Kleinigkeiten, ein großes Vorhaben, gar ein ganzes Lebens, braucht Kraft, Umsicht, Empathie, Engagement, Kommunikation und Gemeinschaft. Selbst wenn er, der 'unmögliche Haufen', nicht gelingt. Der Versuch bereits bringt etwas 'Mögliches' in die Welt. Sinn, sagen wir es altertümlich, Erfüllung, das will uns Beckett wohl sagen, ist mit all dem allerdings nicht verbunden. Wie auch. Spielen wir also: „Das Ende ist im Anfang, und doch macht man weiter.“ Wie geht das, bei all den großen wie kleinen Katastrophen, Kriegen, bei individuellem Leid und 'gesellschaftlichen Depressionen'? In Routinen und eingespielten Kommunikationen. Geht der eine oder stirbt der andere, ist's vorbei mit dem Spiel. Solange aber - das bringen Ulrich Matthes und Wolfram Koch im Deutschen Theater am 23.12. wieder auf die Bühne - tänzeln sie umeinander herum, gehen abwegigen Assoziationen nach, hinterlassen spachliches Splitterwerk, das die Anschlussfähigkeit der Kommunikation ein ums andere Mal auf die Probe stellt, feiern kurzfristige Siege mit kleinen wechselseitigen Quälereien, kreisen im Gelände und unterhalten ganz großartig mit „betont plumpe(r) Gestik eines mittelmäßigen Pantomimen (und) brillanten Clownsnummern.“ Wiederkehr des Immergleichen. Raum und Zeit - in Auflösung - schmerzlich eng. Dem Blinden gelingt der Zugriff auf die Welt über Zuruf und Befehl, der Sehende lässt seine Macht zuweilen in gezielter Zuteilung oder Verweigerung von Diensten und Auskünften spüren. Herr und Knecht brauchen einander, so fragil ihre Beziehung auch sein mag, soll die Welt nicht gänzlich stillstehen. Und so schlägt denn doch das zweiseitige "Insichkreisen" ein paar Funken. Nichts Greifbares, aber eine Zustandsanzeige. "Ich fühle mich etwas erschöpft", klagt Hamm, "die fortgesetzte schöpferische Bemühung." Dem können wir zustimmen. Hatte doch Clov, beim Blick durch die nicht vorhandenen Fenster mit imaginiertem Fernrohr ins Publikum spähend, vermeldet: "Ich seh ’ne begeisterte Menge." So ist es. Wir verlassen das Theater beschwingt und in der Gewissheit, dass wir „an (unserer) Geschichte weitermachen, sie beenden und eine andere anfangen“ können. 

 


Mittendrin

Mehr Fragen als Antworten: Theater eben. Das verbindet Beckett mit dem jungen Ensemble, das mit „Bis keiner weint“ ein fourioses Musical auf die Bühne der Neuköllner Oper bringt. Die naheliegenste Frage natürlich, warum denn keiner weinen sollte. Was ist daran schlecht? Geht es um die Abwehr übergriffiger Dramaturgie und billiger Effekte, die die ZuschauerInnen an den Emotionen packen, um das Nachdenken zu 'verstellen'? Wir sehen schnell, es geht um etwas anderes. Es geht um Verletzungen. Unbeabsichtigte, gezielte, 'leicht' daherkommende und gesellschaftlich geduldete, wo nicht strukturell angelegte. Sie provozieren Herabsetzungen und Mißgunst, führen zu Streit und Ausschluss. Normativ und hoch moralisch aufgeladene Debatten um Identitäten und Gender zeugen von der Dringlichkeit, die das Thema für betroffene Gruppen hat. Was, wie und wo immer man anfasst, schlägt das Spiel, anders als bei Beckett, in 'Kampf' um. Vom Ende her ist hier nichts gedacht, alle sind mittendrin und müssen sich behaupten. Zeitlichkeit pur und Nahräume, die mit fehlenden Distanzen in kurzschlüssige Kommunikation und Abwehrhaltungen zwingen. Die für's weihnachtliche Programm in Auftrag gegebene Neuadaption von "Schneewittchen", Thema des Stückes, verlangt Antworten. Wie queer darf es denn sein, wie kleiden wir das Beziehungsgeflecht von Prinzessin, Schwiegermutter und Prinz in ein neuzeitliches Geschlechtergewand? Und dürfen die Zwerge weiter Zwerge heißen? Die 'Farbpalette' der zur Wahl stehenden SchauspielerInnen nehmen selbstredend Einfluss auf alternativ und strittig vorgestellte Arrangements und Dramaturgien. Dass das Ganze leichtfüßig, ohne Peinlichkeiten, mit viel Witz und ordentlich Biss über die Bühne kommt, ist der großartigen Musik, den Texten und dem Spiel der DarstellerInnen zu verdanken. Es geht also. Spielend 'Diskurse' vom Rand der Feindseligkeit in eine lebendige, die Gefühle und Interessen der Beteiligten aufnehmende Auseinandersetzung zu überführen.

Sonntag, 12. November 2023

Mittwoch, 8. November 2023

Sonntag, 5. November 2023

"Legt es zurück auf die Spitze des Beats"

Tradition, auch musikalische, kann erdrücken. Selbst vormals innovative, Rhythmen, Sound und Vortragsweisen entgrenzende Genres sind nach einem knappen Jahrhundert und in 'industrieller Fertigung' als Dauerschleife im besten Fall selbtreferentiell, im schlechtesten Falle musikalisch tot. Allenfalls als Klangtapete für die Umsatzsteigerung in einer bunten Waren-, Werbe- und Eventökonomie noch brauchbar. Wie also umgehen mit dem, was Country, Gospel, Jazz, Blues, Rock und Popmusik an Klanghalden aufgetürmt haben. Eine aufgeklärt intelligente, den Ausdrucks- und Formenreichtum nutzende Art der Aneignung und Weitergabe konnte jüngst im Konzert bestaunt werden.
Mit mächtigem Wums und Breitwandsound gehen Rebecca Lovell, Lead-Vocals und Gitarre, und Megan Lovell, Lap-Steel-Gitarre und Harmonie-Gesang, unter ihrem Bandnamen 'Larkin Poe' zur Sache: Bluesrock mit vielen Bezügen in die 70'er und Anleihen bei Southern- und Glamrock. Gibt erstere den Songs mit Power-Riffs Tempo und Struktur, gibt letztere mit der Lap-Steel den Songs Wärme und öffnet in vielfältigen Variationen immer wieder neue Klangräume. Ungestüm wäre nicht der richtige Ausdruck, dazu sind die beiden zu abgeklärt. Aber frisch und jung klingt das allemal. Souverän bringen sie ihre Songs, begleitet von Bass und Drums, über die Bühne. Dass sie, heute Anfang 30, von Kindesbeinen an ihre Instrumente gelernt haben und mittlerweile im Schlaf beherrschen, schafft die nötige Routine und Sicherheit, um ein Publikum über einhalb Stunden bei bester Laune zu halten. Nicht zu vergessen und im Bandkontext die halbe Miete: Rebecca Lovell ist eine großartige Sängerin mit passender Stimme. Wer wissen will, woher Rebecca und Megan Lovell ihre Inspiration beziehen, schaue und höre sich ihren 'Cover Channel' an. Dort arbeiten sie sich akustisch durch die Blues-, Rock- und Popgeschichte der letzten Jahrzehnte. Noch bis ins Jahr 2009 spielten sich die beiden mit ihrer Schwester Jessica Lovell als 'Lovell Sisters' auch durch den unerschöpflichen Country-Katalog. An diese Phase erinnern sie in der Mitte des Konzerts mit einem akustischen Set. Sie sind jung genug, um nicht in Ehrfurchtshaltung zu verharren, musikalisch aber so ausgefuchst und erfahren, um der Tradition ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Screamin' Jay Hawkins hätte seine Freude gehabt an 'Bad Spell'. Und auch Ray Charles wußte, dass man, bei allem Schmerz und aller Sehnsucht, zuweilen Heimat, Frau oder Freund hinter sich lassen und Grenzen überschreiten musste. So geht 'Call and Response' über Jahrzehnte, Generationen und Geschlechtergrenzen hinweg. Die klassische Musik, schreibt Alex Ross, „ist nicht mehr das einzige Genre, das die Last der Vergangenheit zu tragen hat.“ Was daraus folgt? Die beste Art, dem klassischen Bestand gerecht zu werden, „besteht nicht in einem Rückzug in die Vergangenheit, sondern“, so schreibt er weiter, „in einer Intensivierung der Gegenwart“ (Alex Ross, Listen to this, Hamburg 2020). Dem kommen 'Larkin Poe' mit Bravour nach. Dass so wenig unter 55jährige den Weg in's Konzert fanden, mag man bedauern. Es zeigt, wie musikalische und soziale Klischees und Etikettierungen nach wie vor Rezeption, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit steuern. Uns Alten kann's egal sein: „We know what time is, time is a thief.“ Daher: „Kick the blues tonight.“ Nicht mehr und nicht weniger.

Samstag, 4. November 2023

Montag, 30. Oktober 2023

Donnerstag, 26. Oktober 2023

Sonntag, 22. Oktober 2023

Mittwoch, 18. Oktober 2023

Ein Bild ist (k)ein Bild

Ein Bild ist ein Bild. Als Satz, folgt man den Konventionen, ist dies wohl "wahr". Ohne Bezug auf ein materielles Substrat ist eine Überprüfung allerdings nicht möglich. Anders formuliert, der Satz macht keinen "Sinn". Er braucht einen Anker außerhalb der Sprache. In der Wirklichkeit, wie man zu sagen pflegt. Es geht dem Satz also eine Erfahrung voraus: dass wir ein Bild, was immer es zeigt und festhält, als Bild bezeichnen, wenn wir uns in einem alltäglichen Handlungszusammenhang über das, was wir Bild nennen, unterhalten, es produzieren, es erwerben, es zur Entwickung geben, es besprechen, es nutzen oder beurteilen. Soll Koordination der Sache nach möglich sein, müssen alle Beteiligten das Bild als Bild behandeln. Nun sind Bilder immer zugleich Zeichen, Sinn und Bedeutung als auch Material und Form. Das Bild, mit und in seinen im Prinzip unendlich vielen ästhetischen Dimensionen, ist ohne das genutzte Material - (Foto)Papier, Leinwand, Farben, Chemie usw. - sowie die eingesetzten künstlerischen wie technischen Verfahren nicht darstellbar. Es erscheint nicht, kommt nicht in die Welt, besitzt keine vom Material unterschiedene Form. Es muss also eins zum anderen kommen, soll ein Bild zum Bild werden. Ist es erst einmal da - geschaffen -, kann es (s)ein Eigen- bzw. ein Zweitleben entwickeln. Als individuelle Vorstellung, als kollektiver Gesprächsstoff, als veröffentlichte Bildbeschreibung, als "Kopie" ist es auf das stoffliche Substrat nur mehr bedingt angewiesen. Gleichwohl kann mit dem Bild in stofflicher Form auch anderes anzufangen sein. Eine Fotographie im Format DIN A2 kann gerollt und als kurzer Schlauch oder als Megaphon genutzt werden. Eine Leinwand kann dem Durchsieben von flüssiger Masse dienen oder als Maske aufgezogen werden. In beiden Fällen hören die Bilder auf Bilder zu sein. Sie stehen in einem (Handlungs)Kontext, der ihnen eine neue Bedeutung zuweist. Kommen wir auf die Anfangsaussage zurück. Der Wahrheitsgehalt der obigen Aussage ist, mit Blick auf soziale Komplexität, "halbwertig". Wahrnehmung, Realität, Begriffe und Bilder stehen in einem - wie es heute oft heißt - so komplexen wie volatilen Verhältnis zueinander. Mal flüchtig und zufällig, mal professionell inszeniert und sorgsam geplant, meist gebrauchsabhängig und wechselseitig aufeinander verweisend und angewiesen. Einerseits ein Hinweis auf die große Freiheit, die uns im Umgang mit Bildern "zusteht". Anderseits - bildabhängig, wie wir heute geworden sind - eine Aufforderung, Bildern zu mißtrauen, Kontexte bewußt wahrzunehmen, zu recherchieren, Interessen nachzuspüren und Herstellungsprozesse transparent zu machen, um urteilsfähig zu werden. So sind heute mit Selbstverständlichkeit und mit Macht in jedes Wohnzimmer transportierte “Bilder kriegerischer Gewalt (...) gleichermaßen kommerzielle Waren und propagandistische Waffen. Vor allem Kriege, an denen die großen Mediennationen militärisch beteiligt sind, werden als globale visuelle Medienereignisse geplant und in Szene gesetzt”, wie aktuell die Berichterstattung über den Ukrainekonflikt anschaulich macht.
Was heißt das für die Fotokryptik? Ihre Bilder kennen Gegenständlichkeit, aber suchen sie nicht. Darin sind sie der abstrakten Malerei verwandt. Diese holt Sehgewohnheiten aus der Routine, erzeugt Interferenzen von Bildfläche und Bildgegenstand, experimentiert mit Farben und Formen, löst Gegenständlichkeit auf und macht die Betrachter zu "Bildproduzentinnen". Die Ergebnisse sind "kontext - entbunden", in gewissem Sinne "leer". Sie kommen ohne Bedeutung und Botschaft daher, sie dokumentieren nicht, besitzen keine sichtbare Zeitreferenz. Einmal in der Welt, stehen sie nur "für sich selbst". Da, wie Gehlen schreibt, „das abstrakte Bild zugleich mit dem Gegenstand das Wiedererkennen” abträgt, liegt die Bildwirkung in der „unmittelbare(n) und nicht ausgefaltete(n) Rationalität des Auges selbst.” Es sind, wie Gehlen weiter schreibt, “die gestaltpsychologischen, den Zentren der Wortbildung naheliegen Schichten der Seele” (Arnold Gehlen, Zeit-Bilder, Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt/M. 1986, S.16). Etwas, was begrifflicher Rationalität und ausgewiesener Bildrepräsentanz vorausgeht, sie aber - wie auch Orientierung, Wahrnehmung und Alltagshandeln - zu weiten Teilen trägt. Und - wichtiger noch - sie bildet und permanent neu justiert. Enthebt sie das der Gefahr, für andere - sehen wir vom Kunstbetrieb ab - Zwecke ge- oder mißbraucht zu werden? Auf Papier oder Leinwand gebannt, können sie sich im Zweifelsfall einer anderen Nutzung nicht entziehen. Als Bild, begrifflich wie als optisch-ästhetisches Ereignis, bleibt es Bild. Es öffnet Räume, limitiert nicht, bevormundet nicht, will nicht überzeugen, übermittelt keine Botschaften, ist niemandem verpflichtet. Den Betrachterinnen bleibt überlassen, ob sie dem Impuls folgen.
Ist die Flucht in die Abstraktion eine Flucht vor der Realität? Sicher nicht, wenn wir akzeptieren, dass - ob als ansprechend, schön oder unangemessen empfunden - Sehen und Wahrnehmen alle Stufen vorreflexiver Erfahrung bis hin zu begrifflich wie mehodisch ausgewiesener Bildauslegung umfasst. Auf Seiten der BildproduzenIinnen wie der RezipientInnen geht die Entscheidung voraus, ein Stück Lebenszeit in Produktion wie Anschauung zu investieren. Ein Luxus? Ja, wenn wir bedenken, dass in vielen Teilen der Welt alle Zeit in die Sicherung des Nötigsten zum Lebenserhalt geht. Nein, wenn wir in Rechnung stellen, wie viel Lebenszeit in hiesigen Gesellschaften - ob in Arbeit oder Freizeit - mit Abseitigem verbracht wird. Kommen wir nochmals auf den Anfang zurück. Ein Bild ist ein Bild. In der Abstraktion liegen Öffnung und Schließung eng beieinander. Bezogen auf ihre Wirkung entwickeln sie ein Eigenleben, wo und wann immer sie als individuelles, ästhetisches Erlebnis oder als kollektiver Gesprächsstoff und öffentlich medialer "Gebrauchsgegenstand" nachhallen. Sie bleiben Bild und wandern zugleich, so sie Aufmerksamkeit finden, in kommunikativ-soziale Welten ab. Mit der Entscheidung, Realität als Referenzrahmen eines Bildes zu ignorieren, schließen sie andererseits einen instrumentellen Gebrauch für Politik, Werbung, Dokumentation, Berichterstattung u.v.m. weitestgehend aus. Adelt dies die Fotokryptik? Nicht im Geringsten. Es geht nicht um das Setzen normativer Maßstäbe, lediglich - wie vorläufig auch immer - um Klärung von Möglichkeiten und Reichweite.
„Sieh nicht auf die Uhr und kümmere dich nicht um den Titel”, so zwei von etlichen Tipps eines Ratgebers für das Betrachten abstrakter Bilder. Damit läßt sich leben und arbeiten.

Samstag, 14. Oktober 2023

Dienstag, 10. Oktober 2023

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Freitag, 28. Juli 2023