Dienstag, 6. Juli 2021

Lose Kopplung I

 


Die "Dinge" laufen, so scheint es, bisweilen an mir vorbei. Das ist natürlich nicht ganz richtig. Ich selber verknüpfe die "Dinge" und das Leben nicht mehr. Es fehlt das zumeist von außen angelegte, zwanghaft zwanglose "Verwobensein" mit und in Alltag und Beruf, dem man sich nach einiger Übung, mehr noch Gewöhnung, widerstandslos hingibt. Dies nimmt über die Jahre, mit eigenen Rhythmen ausgestattet, regelhafte und steuernde Formen an. Eine Art Stützkorsett. So hilfreich, wie hinderlich, sofern immer mal wieder der Gedanke an ein selbstbestimmtes Leben auftaucht.

In der Medizintechnik helfen Stützkorsetts dabei, den Rücken oder einzelne Gliedmaßen nach Verletzungen zu stabilisieren und zu entlasten. Sie stellen, sehen wir von chronischen Leiden ab, die Bewegungsfähigkeit wieder her. M.a.W., ein "Unglück" geht der Nutzung des Stützkorsetts voraus. Es hilft, in alte Form zu kommen und stellt sich bei Erfolg außer Dienst. Psychologinnen vergleichbar, die der Arbeitsfähigkeit und Lebenslust immer mal wieder auf die Sprünge helfen, wenn die Seele durchhängt. In der Mode, als Mieder, Schnürbrust oder Leibstück, ist das Korsett ein steifes, zur Unterkleidung gehöriges Kleidungsstück. Es engt ein, formt - den zeitabhängigen Moden folgend - vor allem Oberkörper und Taille und nutzt über die Jahrhunderte verschiedene Versteifungsmethoden. Es sucht, um des Verkaufs willen, die Abhängigkeit. Für's Versteifen kam der Wal auf den Frauenleib. Vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert wurden aus Fischbein – neben Besteckgriffen, Gestellen und Stöcken von Regen- und Sonnenschirmen, Reitgerten, Angelruten und Spazierstöcken – Korsettstäbe hergestellt. Fischbein sind die Barten, die vom Oberkiefer eines Bartenwals anstelle von Zähnen herabhängenden Hornplatten. Mit diesen filtern Wale Plankton aus dem Meerwasser. Ersatzstoffe retteten Bartenwale vor der Ausrottung.

Nun sind allerdings Korsetts heute nicht mehr gebräuchlich. Sie fielen Gesundheitserwägungen ebenso zum Opfer wie bereits Anfang des 20. Jahrhunderts der stärker werdenden Frauenbewegung und der kriegsbedingt zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen. Nicht zuletzt, so kolportiert es Wikipedia, ersuchte das amerikanische Militär die Damenwelt, auf diese Mode zu verzichten. Das für die Herstellung von Korsetts genutzte Metall wurde dringend für die Rüstungsindustrie benötigt. So haben, behaupten Zyniker, auch Kriege etwas für sich. Sie geben den Körpern Raum. Was man nun wieder so oder so lesen kann.

Kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Fehlt das Stützkorsett, das Alltag und Berufsleben bieten, braucht es besonderer Anstöße, um selbst "im Fluss zu bleiben". Soziale 'Eingebundenheit' ist ohne eigenen Aufwand nicht zu haben und erworbene wie erprobte Kompetenzen finden ohne eigenes Zutun kein bestellbares Feld. Der Renteneintritt, bei aller Freude, setzt die Betroffenen auf Entzug. Schrebergärten, Ehrenämter, Reisen, Kunst- und Kulturkonsum, Hobbys, Familien- und Freundschaftspflege sind geläufige Wege, um über Arbeit vermittelte Zugehörigkeit, Kollegialität, Erfolgserlebnisse und Wirksamkeit "nachzubilden" und zu ersetzen. Was lange am Ende der Berufsbiographie als Autonomiegewinn aufschien, kann in tiefe Depression führen, wenn kein - wie auch immer gearteter - Resonanzraum zur Verfügung steht.

Was hilft? Korsettbefreites Entsteifen? Tägliches Workout, um Beine, Arme und Rücken gelenkig zu halten? Ganz sicher sinnvoll. Wie aber steht's um den Kopf, die Seele, das innere Wohlergehen? Vielleicht dies: Die Fremdbestimmung in eigene Hände nehmen. Der angeborene, innere Drang zu Wissenserweiterung und Erfahrungswachstum lässt ja im Alter ebenso wenig nach wie die Lust, Aufgaben in Kooperation und Auseinandersetzung mit anderen zu lösen.

Die Systemtheorie kennt für dieses Paradox - die Selbstdetermination der Fremddetermination - den Begriff der losen Kopplung. „Lose Kopplung bedeutet, dass Elemente eines Systemzusammenhangs, der kaum als ein solcher erscheint, aufeinander eher plötzlich als dauerhaft, eher unscheinbar als überdeutlich, eher indirekt als direkt und eher verzögert als sofort Einfluss nimmt.“ *

Mit 'plötzlich', 'unscheinbar', 'indirekt' und 'eher verzögert' sind "Lebensmodi" beschrieben, die Raum schaffen, Zeit bieten, Geschwindigkeit aus Lebensvollzügen herausnehmen: ein Agieren aus der zweiten Reihe, aus der Distanz heraus. Es entstehen Freiheitsgrade, die, mit ein bisschen Willkür und Spontanität verbunden, Optionen eröffnen. Nur die "Dinge", die von Interesse sind, führen - nach Reflexion und lustwerter Prüfung - zu Teilnahme und eigenem Engagement.

Lässt sich das auch ein bisschen kürzer fassen? Vielleicht so: „Das Tau, das er mitschleppt, ist an keinen Kahn gebunden.“ (P. Éluard / M. Ernst)** Ein Tau, das muss man wissen, bleibt es dennoch. Nur hinter der Himmelspforte fallen alle Seile ab.



* Wozu Kultur?, Dirk Baecker, Berlin 2000, S.78

** MAX, Markus Orths, München 2017, S.140

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