Samstag, 5. Juli 2025

Neuköllner Modelle

 

 Lässt sich Neukölln in Worte fassen? Ja, wenn man viele davon hat und in vielen Sprachen schreibt und spricht. In Prosa, Reim, Sachlichkeit und Alltagsslang. Wie ist es mit Bildern? In Unmengen vorhanden, öffentlich wie privat, bewegt und statisch, absichtsvoll und zufällig, vielzeigend, ausschnitthaft, emblematisch oder (foto)kryptisch. Und Musik? Der kann man sich nicht entziehen, sofern alles, was am Ort hörbar (Nach)Klang erzeugt, als solche durchgeht. Töne, Geräusche, Stille. Von Mensch, Maschine, Umwelt. Neukölln eine Gesamtkomposition? Ganz sicher nicht, weil Zeit- und Ortsbindung - Neukölln ist zu groß, um gehört zu werden - sowie das individuelle Hörvermögen dem entgegen stehen. Als Anspruch formuliert, entsteht jede Menge Raum für klangliche Formbildung. Wie das geht, zeigt der jüngst verstorbene Sven-Åke Johansson mit seiner Formation Neuköllner Modelle. Extensiv wie intensiv. Die Spielweise ist, so schreibt er, „als konstruktiv zu bezeichnen mit den Erkenntnissen aus der expressiven Grundlage des Freejazz, mit Mikro-Interaktionen und Reaktionen aus dem Unterbewussten, eingesetzt als bewusst radikale Formsätze, die über weite Strecken variert zu Formerweiterung führen! Modelle für die Auslotung der ungebundenen Rhythmik, Periodik und Methoden der Harmonik – Verfahrensweisen.“

Wie das klingt? Individuell ungebunden. Dennoch in Raum, Zeit und Klang absichtsvoll und kollaborativ verwoben. Zusammen- und auseinanderlaufend, zwischen Klang- und Soundcollagen und melodischen Linien kreisend, mal ruhig und zurückhaltend, mal kreischend-lautmalerisch, nervös pumpend bis zu zartem Strich. Mal gehetzt-atemlos, mal in gestufter Ruhe, von monotoner zu polyphon-dissonanter Kommunikation, die weder Auf- noch Erlösung verspricht. Das Schlagwerk als Grund und Boden. Raschelnd, polyrythmisch, filigran, Akzente setzend, mal treibend, mal bremsend. Ein ewig pulsierender Ruhepol wie Unruheherd. Für langjährig in Neukölln wohnende Menschen klingt dies vertraut. Neuköllner Modelle, so heißt es in den Linernotes zu Sektion 1 - 2, kombinieren „bipolare Verfahren und schaffen etwas, das man mit einer retardierenden Ballade des beharrlichen Up-Tempo-Gemurmels vergleichen könnte, das sich in der heutigen Hintergrundwelt beschleunigt.“ Hörbilder einer Großstadt. Mit Ein- und Aussetzern. Enervierend – disruptiv, zugleich entspannt und konzentriert, mit einer Prise stoischen Humors, der an Karl Valentin erinnert. Mit Halt in Neukölln. Neukölln halt.

Musik, sagt Johansson, ist existenziell. Endet (s)ein Leben, schwingt sie weiter. Verlässt eine/r die Stadt, bleibt sie davon unberührt. Ist das tröstlich? Für die, die bleiben, vielleicht. Die, die gehen, haben - immerhin - am Gesamtbild Neukölln hör- oder sichtbar gearbeitet. Andere nehmen die Fäden auf. Die Aufgaben bleiben dieselben:

    "... Wir haben Schwierigkeiten
     Mit uns & untereinander
     Das zeigen wir
     Schwierigkeiten müssen nicht beseitigt werden
     Wir machen uns gegenseitig transparent
     Innere Veränderung bringt äußere Veränderung ... “ *

 

* Befreiung, Sven-Åke Johansson


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen