Sonntag, 21. November 2010

Freispiel


Berlin liebt seine Paradiesvögel. Ein frisch zugeflogener hat sich dem Berliner Publikum vorgestellt. Technisch perfekt, dabei alle - im Sinne des Wortes - Register ziehend, bearbeitete Cameron Carpenter die Schuke-Orgel in der Philharmonie. Die Wiederentdeckung eines Instrumentes. Rückkehr in die Jetztzeit. Nicht mehr, vor allem nicht weniger, ist das, was da passiert(e). Viele Stücke, ursprünglich für Klavier oder Orchester geschrieben, hat Cameron für die Orgel bearbeitet. Neben den Klassikern stehen auch eher selten gespielte Komponisten wie Nikolai Medtner und Marcel Dupre auf dem Programm. Pop, Jazz und eigene Kompositionen sind ebenfalls selbstverständlicher Teil des Repertoires. Was ihn interessant macht? Er rückt das Orchestrale und den Klangreichtum des Instruments wieder an den Alltag heran, bringt das Stolpern, die Bockigkeit und das Widerstrebende in die Musik zurück. Leben. Unerschöpflich das Reservoir an Klängen, Klangfarben, einzelnen Nuancen, „Soundveränderungen“ bei gehaltenem Ton, das Carpenter dem Instrument entlockt. In Fülle und Tiefe, orchestral wie einstimmig, geben seine Interpretationen selbst totgespielten Werken neuen Glanz. Überwältigend aber seine Fähigkeit, werkdienlich Tempi zu verschleppen und anzuziehen, ungerade Rhythmen mit Füßen und Händen gleichzeitig, versetzt und übereinander geschichtet zu spielen, Stücke in Teilen zu zerlegen und neu zusammenzusetzen. Musik und Mathematik, Zeit und Klang, Fülle und Abstraktion. Dinge, die scheinbar nicht zusammengehören und doch so dicht beieinander liegen und ohne einander nicht’s sind. Das muß man spielen können, ohne das eine oder das andere zu verlieren, zu verdrängen oder vorschnell in Wohlklang aufzulösen. Carpenter gibt das ganze Geheimnis preis! Davon mochte sich dann niemand trennen. Wieder und wieder kehrte er auf die Bühne zurück und spielte Zugabe um Zugabe. Nicht verpassen, wenn’s wieder passiert!

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