Sonntag, 5. April 2009
Lange stand an der Sonnenallee, Ecke Weichselstraße, ein flaches, weißgrau getünchtes, der obere Rang dunkler abgesetzt, und um’s Eck gerundetes Gebäude. In den 50’ern, 60’ern und 70’ern sorgte es für Kinofreuden. Das Fernsehen vertrieb die Freuden in’s heimische Wohnzimmer, der Kinobetrieb wurde eingestellt, seither residierten hier verschiedene Supermärkte, schließlich „Plus“. 2007/2008 erfolgten Abriß und Neubau. Ebenfalls flach. Klinkerbauten nachempfunden, ein Fremdkörper im umliegenden Altbaubestand, funktional. Innen bedeutend heller, da große Fenster an der Front seither für Licht sorgen. Das dunkel-mumpfige hat einem kalt-übersichtlichen Interieur Platz gemacht. H. steht am Gemüseregal und wägt ab, ob’s die Bioware oder die etwas billigere Normvariante sein soll. Das Alter spricht für die Normvariante, der Geschmack für die teurere Alternative. Die Lüge, sagt sie, als sie mich sieht, ist eine Kunstform und so alt wie das Menschengeschlecht. Sie prüft dabei Karotten. Hält sie gegen das Licht, obwohl die Plastikverpackung genügend Durchsicht bietet. Unerläßlich, fährt sie fort, für’s Zusammenleben. Kein Schauspiel, keine Oper, kein Katechismus, keine Erziehung, ja, sagt sie, kein Alltag ohne Lüge. Sie kommt auf den Hund. Wird missbraucht. Ich stutze. Wie geht das, geht mir durch den Kopf. Ja, sagt sie, mit der Lüge umzugehen haben wir alle gelernt. Mit ihr kommen Handlungsketten, Reflektion und Moral in die Welt. Distanz halt. Lust und Spiel. Jede hat dafür einen inneren Kompass. Scham hält’s im Lot. Die fehlt. Oben. Untrügliches Zeichen für die Refeudalisierung einer Gesellschaft. Das menschliche Band zerreißt. Keine Augenhöhe, keine Empathie. Ohne Empathie verliert die Demokratie ihren emotionalen Anker. Kurzschluß, sagt uns die Technik. Herabsetzen eines Widerstandes bis auf oder nahe Null. Die Lüge wird nicht mehr als Lüge empfunden. Da regt sich innerlich nichts mehr. Ich greife in die Kartoffelkiste. Die Grenze, fährt sie fort, zu bewusster oder unbewußter Geringschätzung, ja, Beleidigung, ist erreicht, nee, sagt sie, eigentlich schon längst überschritten. H. hat sich von ihrem Redefluß sichtlich mitreißen lassen und fixiert, wir haben uns gemeinsam zum Frischregal vorgearbeitet, eher beiläufig die Weichkäsesorten, denen sonst ihr uneingeschränktes Interesse gilt. Wer lässt sich denn gern in’s Gesicht spucken? Sie guckt mich fragend an. Na ja, antworte ich ihr, was anderes fällt mir spontan nicht ein, ein bisschen Anstand sollte schon sein! Beim lügen.
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