Samstag, 31. Oktober 2009

Broodzeit


Wenn sich das Jahr dem Ende zuneigte, hielt in den späten 70’, 80’ und auch noch in den 90’ern Jahr für Jahr Herman Brood im Quasimodo Einkehr und rockte, meist kurz vor Weihnachten, für 5 Tage das Haus. Ein Pflichttermin. Für Neuköllnerinnen und Neuköllner. Mit Wucht, Intensität, Leidenschaft, mit leicht gebrochener Stimme und erstklassiger Band, mal malade, meist gut aufgelegt, gab’s die immer gleiche Botschaft: Leben, leben, leben. Riskant, schnell, atemlos, mit der ihm eigenen Mischung aus Zugewandtheit, körperlicher Präsenz und Verausgabung. Rock’n’Roll pur. Das zehrt. Die Mittel, die man benötigt, um das Leben so zu verdichten, sind nicht nur teuer, sie bringen in Abhängigkeit. Auch damit ging Herman offen um. „Herman ist high“, sang Nina Hagen. Und deutete mit der nachgeschobenen Frage: „Herman, wo bist Du?“ schon an, dass eines Tages das Rückflugticket entfällt. Am 11.07.2001 schließlich hat Hermann Brood, eigen wie immer, das Amsterdamer Hilton-Hotel für einen letzten Auftritt genutzt. Seinen Abflug. Aus dieser Welt. Ohne Federn und Flügel. Dass er auch ein ausgezeichneter Maler war, wissen die wenigsten. Warum mir das einfällt? Die Lücke, die er im Berliner Dezember und Konzertkalender hinterlassen hat, hat bisher niemand geschlossen.

Samstag, 24. Oktober 2009


Still-Leben (10 - 10)

Laut geben


Wahrnehmen ist aktives Tun. Wahrgenommen werden kann aber nur, was auch erkennbar, also zu sehen, zu lesen oder zu hören ist. Die Zeit der Regierungsbildung ist die Stunde der Lobbyisten. Die möchten in ihrem Tun gerne unerkannt bleiben. Geräuschlos soll es zugehen. Das deckt sich mit dem Wunsch der Regierungsparteien, die Regierten darüber im Unklaren zu lassen, wer ihnen beim Formulieren von Programmen und Gesetzen zur Hand geht. Höchste Zeit also, ein bisschen Licht in das Dickicht von Filz, Abhängigkeit, Korruption und illegitimer Interessendurchsetzung zu bringen. Unterschreiben!

Freitag, 23. Oktober 2009


Still-Leben (9 - 10)

Donnerstag, 22. Oktober 2009


Still-Leben (8 - 10)

Neuköllner Einzelhandel


Einst war die Karl-Marx-Straße - mit ihren Seitenstraßen - eine gefragte und vielbesuchte Geschäftsstraße. Wer „gepflegt“ einkaufen gehen wollte, wählte zwischen Kudamm, Schloß- und Karl-Marx-Straße. Hier, das war Berliner Gemeingut, wurde man bestens bedient. Ein Fachgeschäft neben dem anderen. Nichts, was man nicht bekam. Keine Frage, die offen blieb. Keine Ware, die nicht bestellt, geändert oder getauscht werden konnte. Für Reparatur und Erhalt sorgte das örtliche Handwerk. Heute wirken sie - die letzten traditionellen Fachgeschäfte - wie aus der Zeit gefallen. Und sind uns dennoch - oder gerade deshalb - an's Herz gewachsen. Die Fleischerei Kluge in der Fuldastraße feierte gerade den 50. Geburtstag. Wer die Finger von Fleisch, Aufschnitt und Geflügel nicht lassen kann, ist und wird hier bestens bedient. Vegetarier kommen auch nicht zu kurz und greifen zu Biowein, Nudeln und Sauerkraut. Das andere Geschäft, die Blumenhandlung Weyer, sieht bereits auf eine 78jährige Firmengeschichte zurück. Der Laden Sonnenallee, Ecke Jansastraße, eröffnete 1957, zunächst als Obst- und Gemüsehandel. Für welch' Anlaß auch immer, hier wird der richtige Strauß gebunden, die gewünschte Staude besorgt und Balkonien saisonal angemessen bestückt und geschmückt. Wo die Reise im Quartier hingeht, läßt sich momentan schwer sagen. Etwas unentschieden schwankt die Karl-Marx-Straße - wie auch die Sonnenallee - hin und her zwischen Resterampe, orientalischem Basar, postmodern-beliebiger Glasarchitektur mit den immer gleichen Ladenketten, Handy-, Back-, Dönershops und - in den Seitenstraße - Männercafes, aufkommender alternativer Kneipen- und Kleinkunstkultur. Was die Zeit überdauerte und konstant anschwoll, war und ist der Verkehr. Man kann dies als Niedergang, Veränderung oder als „Neuerfindung“ beschreiben. Leben müssen wir's und pflegen sollten wir die alten wie die neuen Händlerinnen und Kaufleute. Was wir uns nicht nehmen lassen sollten ist, anders als uns jüngst Herr Sarrazin wieder anempfahl, türkische und arabische Händler in den Stand der "ehrbaren Bürgerinnen" aufzunehmen. Integration findet auf Augenhöhe statt. Oder gar nicht.

Mittwoch, 21. Oktober 2009


Still-Leben (7 - 10)

Sonntag, 18. Oktober 2009


Still-Leben (6 - 10)

Samstag, 17. Oktober 2009

Spontan


Unwägbarkeiten machen das Leben aus. So auch heute. Der „Kaufmann aus Venedig“ hätte das Programm bestellen müssen. Im Maxim Gorki Theater. Er war - krankheitsbedingt - abgereist. Wohin, weiß niemand. Punktgenau und spontan machte Anja Schneider für Kurzentschlossene und Unwissende einen Einführungskurs in Sachen Herta Müller. Und sie machte es umwerfend gut. Allein, nur dem Publikum und dem Herztier ausgeliefert.

Still-Leben ( 5 - 10)

Consciences and Frontiers


Angenehm bescheiden, was bei der zur Verfügung stehenden Fläche nicht ganz so schwierig ist, kommt sie daher. Die aktuelle Ausstellung - consciences and frontiers - in der Alten Post. So hat jede und jedes seinen Platz. Grenzziehend, aber nicht begrenzend. Was auf dem Bild so dunkel wie bauchig ausschaut, bietet einen faszinierenden Zugang zum Thema. In der „Draufsicht“ wird alles Struktur. Erst beim genauen „Hinschauen“ sieht man: Da lebt (noch) was. Menschen. So schmal wie die Grenze zwischen bloßem „Dasein“ und erfülltem Leben, so fließend sind die Grenzen zwischen Ignoranz, Gewalt und Widerspruch. Die Ausstellung macht dies gleich doppelt zum Thema. Sie bringt „Verhältnisse“ zum Sprechen und reflektiert Sicht und Zugang. Auch aus Elend lässt sich noch ein Funken Ästhetik schlagen. Das ist in der Sache in Ordnung, wenn es der Aufklärung dient. Die Kunst tut dann, was eine ihrer ureigensten Aufgaben ist: Sie tut weh. Neben Arbeiten von Julio Bittencourt sind Soavina Ramaroson, Sofie Arfwidson, Tuca Vieira, Emmanuel Eni und viele andere mit Werkstücken vertreten.

Freitag, 16. Oktober 2009















Still-Leben (4 - 10)

Bloglike


Mit den Bloggerinnen und Bloggern ist es wie mit guten Nachbarn. Mit der Zeit lernt man sie kennen, gewöhnt sich an sie und freut sich, immer mal wieder was Neues zu hören. Bleiben sie allzu lange weg, fängt man an, sich Sorgen zu machen. Die einen - die Rixdorfer Stadtschreiber - helfen aus mit dem Neuesten aus dem Kiez, die anderen - so wie Jette- mit Beobachtungen, Selbstgestricktem und Merkzetteln aus und für das Leben, um wenigstens zwei beispielhaft zu nennen. Andere teilen die eine oder andere Leidenschaft und sind - wie der Sonic Blog - wahre "Trüffelschweine" im Aufspüren neuer und anregender Fotostrecken. Wieder andere halten die Tür zu bunten Szenen - Streetart Blog - weit auf und helfen der Neugier auf die Beine. Wer sich für abwegiges, wie etwa auskommentiertes Zahlenwerk - Querschüsse - zur Lage der Weltwirtschaft interessiert, wird ebenso fündig, wie andere, die mit Witz und Weitblick geschriebenen Wirtschaftsjournalismus - weißgarnix - suchen, um die Orientierung in unübersichtlichen Zeiten zu behalten. Auf den Punkt gebracht: Mit ein bisschen (Zeit)Disziplin sind Blogs schlicht eine Bereicherung.

Donnerstag, 15. Oktober 2009


Still-Leben (3 - 10)

Mittwoch, 14. Oktober 2009


Ich bin artig. Ich folge der Empfehlung. „Style Spion“ rät, heute schon die für den 16.10.2009 terminierte Aktion mit dem Titel “Ein ♥ für Blogs” zu bewerben. Worum geht’s. „Am kommenden Freitag, den 16.10.09, veröffentlichen alle, die darauf Lust haben, einen Beitrag mit dem Titel ‚Ein ♥ für Blogs’ in dem sie ihre lesenswerten deutschsprachigen Blogs vorstellen. Das darf dann auch mal über den eigenen Blogtellerrand hinausgehen.“ Tja, wer füttert, der sagt, wo der Rand ist, oder? Egal. Wer's kann, der tut es.
Still-Leben (2 - 10)

Dienstag, 13. Oktober 2009

Still - Leben


Alles ist in Bewegung. Mensch, Tier, Pflanzen, Dinge. Nichts ist ausgenommen. Ruhe gibt es nur in Relation zu Bewegung. Wer schläft, wächst oder ist bereits im Verfall begriffen. Selbst auf dem Friedhof ist nicht zu bekommen, was die Inschriften vieler Grabsteine versprechen: Ewige Ruhe. Vielmehr: Zerfall, Vermischung, Übergang in organische Materie. Irgendetwas bleibt schließlich, wenn auch in anderer Form. Daraus ziehen Religionen ihre Trost- und Heilsversprechen. Die Illusion von Ruhe entsteht aus den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in denen Bewegung vorkommt. Im Vergleich zum Laufen ist das Sitzen eine ruhige Angelegenheit. Wir sind, mit anderen Worten, zu(r) Bewegung verdammt. Der Erdrotation kann niemand und nichts entgehen. Was uns bleibt ist, die Geschwindigkeit zu drosseln. Viele kluge Leute haben sich daher mit der Frage befasst, welche Geschwindigkeit dem Menschen angemessen ist. Eisenbahnfahren und Fliegen haben - wie wir wissen - mehrfach potenziert, was der menschlichen Physis möglich ist. Was hat das alles mit der Fotografie zu tun. Sie ist von allen Medien dasjenige, das glaubhaft die Illusion von Ruhe erzeugen kann. Das Bild, die Fotografie ist per se Stillstand. Ein Augenblick, eine Person, eine Situation, eine Landschaft ist fixiert. Der Geschwindigkeit enthoben, aus Ursprungsraum und Zeit „herausgenommen“. In der Hand der Betrachterin ist das Bild das einzige, das im Augenblick der Betrachtung nicht vergeht. Für das Material, den Bildträger - zumeist Papier unterschiedlicher Qualität - gilt dies nicht. Es strebt dem eigenen Verfall unaufhaltsam zu. Ob das nun 10, 50 oder 2000 Jahre dauert. Dasselbe gilt für die Betrachterin, nur das die Zeitläufe erheblich kürzer ausfallen. Versuchen wir es also mal mit einer neuen Fotoreihe. Die Fotokryptik gilt gemeinhin als ausgesprochen ungegenständlich, wenn nicht sperrig. Nun könnte es aber sein, dass Gegenständlichkeit und Kryptik sich in „Ruhe“, „Stille“, zeitlicher wie räumlicher Entrücktheit treffen. Um nicht zu sagen, ununterscheidbar werden. Still-Leben (1-10).

Samstag, 10. Oktober 2009

Weserrakete


Gut, dass die Nachbarinnen aufpassen. Sonst wär’s an mir vorbeigegangen. Die Rakete zündet heute abend, die Weserstraße hoch wie runter. Aufgereiht wie am Schnürchen. Es gibt ordentlich was auf die Ohren, in’s Gemüt und für’s Tanzbein. Donaustraße und Weichselstraße sind mit dem Valentin Stüberl und dem Broschek dabei. Schlendern gehen und sich suchen, was gefällt!

H.sagt


Seit langer Zeit ging sie mir aus dem Weg. Vielleicht war es auch nur Zufall. Ich treffe H., die die letzten Sonnenstunden des Jahres nutzt. Im Dilemma. Sie sitzt draußen. Der Lärm der Reuterstraße, die hier auf die Donaustraße trifft, ist heute erträglich. Ich setze mich zu ihr. Sie nickt kurz, zustimmend hoffe ich, nimmt den Blick aus der Zeitung und hebt an: Ja, sagt sie, ja. Das sagt sie immer. Es gefällt dir, oder? Ich bin erstaunt und frage nach: Ja was denn? Die Krise, sagt sie, ein einziges Mediengewitter, ein Gespenst. Nö, so hab ich’s nicht gesehen. Es kommt, sagt sie, gewaltig. Geld im Überfluß, Arbeitslosigkeit, Hunger, Spekulation und das ganze TamTam. Dann hebt sie an: Ressourcen sind knapp. Man muß sie sparsam einsetzen. Und immer da und dann, wenn sie gebraucht werden und den größtmöglichen Nutzen versprechen. Wut kann niemand als Dauerzustand aggregieren und auf Knopfdruck ablassen. Politische Vernunft gibt es nur scheibchenweise. Wen es anfällt, der kämpft und hat nach kurzer Zeit soviel Gegenwind, dass er alle Vernunft fahren lässt, nur um nicht ständig im Wind zu stehen. Das einzige, was nicht knapp ist, ist Geld. In Hülle und Fülle vorhanden. Nur nicht da, wo es gebraucht wird. Geld ist das Gegenteil von knapp. Dennoch bestimmt das Knappheitstheorem die Welt der Ökonomen. Erstaunlich, sagt sie. Ich stimme ihr zu. Versuchen wir es, sagt sie, mal andersherum. Arbeit ist das, was die Welt zusammen hält. Schon immer übrigens. Ich nicke. Sie ist vorhanden. In Hülle und Fülle. Nicht knapp, sondern der Reichtum dieser Welt. Arbeit, sie wird ernst, liegt brach, wo Eigentumstitel Arbeit und Arbeitsgegenstand bzw. Arbeitsmittel voneinander trennen. Die Trennung kann soweit gehen, dass „lebendes Arbeitsvermögen“ - Menschen mithin - in unmittelbarer Nachbarschaft von bearbeitbaren „Mitteln“, fruchtbarem Grund und Boden, der zur Produktion von Lebensmitteln genutzt werden könnte, „sehend“ sterben. Was fehlt ihnen? Weder das Vermögen, die Motivation noch der Wille. Es fehlt ihnen die Macht. Anders formuliert, die Durchsetzungsfähigkeit. Eigentumstitel sind „eingefrorene Machtverhältnisse“. „Beherrschbar“ in der einen wie der anderen Richtung. Dies hat, sie wirkt erregt und angespannt, mit Fragen von Markt oder Plan nicht das geringste zu tun. Technisierung und Ersatz von Arbeit mag ein Problem sein. Weltweit gesehen, ist immer noch das Gegenteil der Fall. Ohne Arbeit geht nix, Geld selbst hilft niemandem. Also, sagt sie, wie kommen Arbeit und Geld zusammen. Heute leider gar nicht mehr. Nicht mehr „richtig“ jedenfalls. Arbeit, so die unter Rot-Grün, unter Rot-Schwarz und auch Schwarz-Gelb favorisierte Ideologie lautet: Arbeitskosten - Löhne und Auskommen - drücken, drücken, drücken. Die Arbeitsagenturen und Jobcenter werden dabei seit 2 Jahrzehnten missbraucht, um flächendeckend Niedriglöhne durchzusetzen. Verteilung, sie wirkt entschieden, beginnt nicht beim Produkt, sondern bei der „angemessenen“ Berücksichtigung der beim „Erwirtschaften“ beteiligten „Faktoren“. Nennen wir es ruhig „Preis“. „Preis der Arbeit“ zum Beispiel. „Preis“ auf erbrachte „Leistung“. Warum ist der Herr Sinn, vom Steuerzahler alimentiert und außerhalb jeder Wertschöpfung stehend, seinen „Preis“ wert. Warum liegt die Fabrikarbeiterin, Teil der Wertschöpfungskette, so viel niedriger im „Preis“. Der Wurm liegt - oder? fragt sie mich - in der „Werthaltigkeit“ von Arbeit begraben. Ich nicke, um den Gesprächsfluss nicht zu unterbrechen. Wer aber hält, sagt sie, etwas „für wert“ oder „nicht wert“. Angebot und Nachfrage heißt die eine Antwort. Die andere Antwort lautet in der Regel, qualifizierte Arbeit ist teuer, gering qualifizierte Arbeit gibt’s billig oder umsonst. Was ist das eine, was das andere. Wie stelle ich fest, was „qualifizierte“ Arbeit ist. Gemessen am Aufwand der - im übrigen - gesellschaftlich finanzierten Erzeugung von Qualifikationen oder am „Gewinn“, den die Gesellschaft von verschiedenen Arbeiten und Dienstleistungen hat? Das Reinigen und Neuverlegen von städtischer Kanalisation kann bisweilen hilfreicher sein als das Gutachten eines Ökonomen zur Frage der Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik. Direkt gefragt: Was bringt uns dazu, das eine gut, das andere schlecht zu entlohnen? Wenn du - und jetzt guckt sie mich eindringlich an - eine Antwort weißt, die Macht, Interessen, Kultur, Tradition und gesellschaftliche Übereinkünfte herausrechnen kann und einen „objektiven“ Maßstab zu benennen weiß, dann bitte ich dich, ihn zu benennen. Ich bin ratlos. Nicht Verteilungsgerechtigkeit, hebt sie wieder an, ist unser Problem. Die Verteilungsdebatte ist pure Ideologie. Die intelligente Verknüpfung von Arbeitsvermögen, Erfahrung, Eigentum und Geld wird uns weiterhelfen. Mit Markt kann man problemlos leben, wo die Regeln gemeinsam geklärt sind. Heißt - sagt sie mit Nachdruck - natürlich auch: Demokratie, hohe Steuern auf Eigentum und Vermögen. Heißt: Miteinander leben wollen. Ich bin kitschig, sagt sie. Das kannte ich noch nicht von ihr. In der Anderen, und sei sie mir noch so fern und anstrengend, eine von meines gleichen zu sehen. Ein Mensch. Ganz schlicht. So was mögen ja zur Zeit nicht mal mehr die Sozialdemokraten, von den anderen Parteien ganz zu schweigen, sagt sie. Ich gucke in’s Glas und schweige ein bisschen betreten. Ein Sozialdemokrat, das fiel mir ein, hatte gerade - wir kennen dies aus den Jahren 1933 - 1945 - von „ökonomisch nutzlosen“ Menschen gesprochen. Rauch stieg auf. H. hatte sich eine Zigarette angezündet.

Mittwoch, 7. Oktober 2009

Neuköllner Vertretung


„Und sehen wir uns nicht in dieser Welt, dann sehen wir uns in Bielefeld!“, reimte vor Jahrzehnten Udo Lindenberg. Das zumindest hat sie uns erspart. Wir sehen uns in Berlin. Sie wird uns vertreten. Eine Bielefelderin. CDU-Mitglied. Sie tritt an im Bundestag, um Neukölln eine Stimme zu geben. Ob das hilft, wird schwer auszumachen sein. Vorkommen werden wir Nord-Neuköllnerinnen und Nord-Neuköllner im Bundestag gewiß nicht. Ist das jetzt schlimm? Der letzte mit Mandat und Auftrag in den Bundestag gesandte, direkt gewählte Abgeordnete - Dietmar Staffelt von der SPD - hat früh seine eigenen Interessen entdeckt und sich als Lobbyist der Rüstungsindustrie betätigt. Der Lohn ist eingefahren, der gute Mann versorgt, die Probleme Neuköllns sind die gleichen geblieben. Bevor das ganze zu sehr nach Korruption roch, hat er die Seiten gewechselt und vorzeitig sein Mandat abgegeben. „Geschmeidig“ nennt man das heute wohl. Schlimmer kann es also kaum kommen. Die Meßlatte für politischen Anstand liegt so niedrig, das Frau Vogelsang Mühe haben wird, darunter durch zu kommen. Was Udo Lindenberg damals empfahl, sei noch nachgereicht:
„Und so flog ich los Millionen Meilen
bis ich schließlich zur Venus kam
und da nahmen mich die Orgienengel
lüstern in den Arm:
Und hier bei uns in dieser Welt
ist es geiler als in Bielefeld!“

Dienstag, 6. Oktober 2009

An der Wupper


Ab und an - und sei es nur für zwei Tage - müssen auch Neuköllner mal raus aus dem Kiez und in die große, weite Welt reisen. Die fängt bekanntlich in Höhe von Hagen und Wuppertal an. Weitläufig, weltstädtisch, durch und durch urban, verwurzelt in regionaler Industriegeschichte, Arbeitermilieu, geprägt durch Tüftler, Ingenieure, Industriemagnaten und ein großherziges, kunstbeflissenes Großbürgertum mit einer Prise Fachwerk und Landwirtschaft. Alles da, was man nicht wirklich vermisst. Berlin in die Breite gezogen, ohne Berliner Bevölkerung. Trotzdem sehr sympathisch. Sie sind halt anders, die Ruhrpottler. Angenehm entspannt, kein gespreiztes Gehabe, Orchideenblüten kommen gar nicht erst zur Entfaltung, mit anderen Worten: alles normal und jede(r) kann mit jedem. Die Spitzen fehlen, Zugereiste laufen hier im Alltag mit, man redet miteinander, die Häubchen fehlen, alles ist unaufgeregt und - bei heiterem Optimismus - auf die Frage gerichtet, wie geht’s denn morgen weiter. Die Antwort: die Ruhr und die Wupper rührt nix an, uns ooch nich, ’s wird schon. Der Berliner hat - gegen jede Empirie - eine andere Antwort parat: morgen wird allet schlimmer. Das potthäßliche Hagen wuchert mit neuen Pfunden. Wiedereröffnet wurde das Osthaus-Museum. Zwei Sammlungen finden im erweiterten und einem neuen Gebäude Platz: Emil Schumacher und Christian Rohlfs, beides Hagener Künstler. Ein ebenso spannendes wie seltenes Kleinod hat nach der Wiedereröffnung eine größere Heimstatt bekommen. Sigrid Sigurdssons „Raum der Stille“ ist in der ehemaligen Bibliothek des Altbaus unter dem Titel „Die Architektur der Erinnerung - Das Museum im Museum“ neu und größer erstanden. Seit 1988 gibt Sigurdsson den Phänomenen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ einen visuellen Ausdruck. Die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bildet dabei den inhaltlichen Schwerpunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Der in den Jahren gewachsene und weiter wachsende Bestand liegt in Form dickleibiger Folianten vor und kann eingesehen werden. Der Clou: es liegen leere Folianten bereit, die Besucherinnen für drei Jahre entleihen, mit eigenen Themen füllen können, zurück in den Bestand des Museums geben und dem Publikum zur Verfügung stellen. Eine andere, "gediegene" Form der Bloggerei, die ernsthaftes Interesse und Arbeit erfordert. Eine Aufforderung!?!


Ein verkaufsoffener Sonntag wird in Wuppertal wie ein Volksfest begangen. Vom Hauptbahnhof hoch zum Rathaus schiebt sich dichtgedrängt die Menge, ganz entspannt und ohne Hast, Schlangen bildend vor Eis- und Pommes-Ständen, mit einer Engelsgeduld, freundlich und aufeinander bezogen. Faszinierend. Was erschreckt, ist, die Städte im Westen haben in all den Jahren Patina angesetzt. Alles sieht ein bisschen - sogar ein bisschen mehr als bisschen - grau in grau aus. Farbe fehlt bzw. das Geld, um die Hütten mal aufzuhübschen. Das schreit geradezu nach einem weiteren Konjunkturprogramm. Passend dazu schlenkert die Schwebebahn - Deutschlands einziges Hängemuseum im Livebetrieb mit Publikumsbeteiligung - dann die Mutigen von Bahnhof zu Bahnhof. Ein Erlebnis, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Mobilität im ästhetischen Gewand des 19.Jahrhunderts. Mitten über der Wupper.