Samstag, 10. Oktober 2009
H.sagt
Seit langer Zeit ging sie mir aus dem Weg. Vielleicht war es auch nur Zufall. Ich treffe H., die die letzten Sonnenstunden des Jahres nutzt. Im Dilemma. Sie sitzt draußen. Der Lärm der Reuterstraße, die hier auf die Donaustraße trifft, ist heute erträglich. Ich setze mich zu ihr. Sie nickt kurz, zustimmend hoffe ich, nimmt den Blick aus der Zeitung und hebt an: Ja, sagt sie, ja. Das sagt sie immer. Es gefällt dir, oder? Ich bin erstaunt und frage nach: Ja was denn? Die Krise, sagt sie, ein einziges Mediengewitter, ein Gespenst. Nö, so hab ich’s nicht gesehen. Es kommt, sagt sie, gewaltig. Geld im Überfluß, Arbeitslosigkeit, Hunger, Spekulation und das ganze TamTam. Dann hebt sie an: Ressourcen sind knapp. Man muß sie sparsam einsetzen. Und immer da und dann, wenn sie gebraucht werden und den größtmöglichen Nutzen versprechen. Wut kann niemand als Dauerzustand aggregieren und auf Knopfdruck ablassen. Politische Vernunft gibt es nur scheibchenweise. Wen es anfällt, der kämpft und hat nach kurzer Zeit soviel Gegenwind, dass er alle Vernunft fahren lässt, nur um nicht ständig im Wind zu stehen. Das einzige, was nicht knapp ist, ist Geld. In Hülle und Fülle vorhanden. Nur nicht da, wo es gebraucht wird. Geld ist das Gegenteil von knapp. Dennoch bestimmt das Knappheitstheorem die Welt der Ökonomen. Erstaunlich, sagt sie. Ich stimme ihr zu. Versuchen wir es, sagt sie, mal andersherum. Arbeit ist das, was die Welt zusammen hält. Schon immer übrigens. Ich nicke. Sie ist vorhanden. In Hülle und Fülle. Nicht knapp, sondern der Reichtum dieser Welt. Arbeit, sie wird ernst, liegt brach, wo Eigentumstitel Arbeit und Arbeitsgegenstand bzw. Arbeitsmittel voneinander trennen. Die Trennung kann soweit gehen, dass „lebendes Arbeitsvermögen“ - Menschen mithin - in unmittelbarer Nachbarschaft von bearbeitbaren „Mitteln“, fruchtbarem Grund und Boden, der zur Produktion von Lebensmitteln genutzt werden könnte, „sehend“ sterben. Was fehlt ihnen? Weder das Vermögen, die Motivation noch der Wille. Es fehlt ihnen die Macht. Anders formuliert, die Durchsetzungsfähigkeit. Eigentumstitel sind „eingefrorene Machtverhältnisse“. „Beherrschbar“ in der einen wie der anderen Richtung. Dies hat, sie wirkt erregt und angespannt, mit Fragen von Markt oder Plan nicht das geringste zu tun. Technisierung und Ersatz von Arbeit mag ein Problem sein. Weltweit gesehen, ist immer noch das Gegenteil der Fall. Ohne Arbeit geht nix, Geld selbst hilft niemandem. Also, sagt sie, wie kommen Arbeit und Geld zusammen. Heute leider gar nicht mehr. Nicht mehr „richtig“ jedenfalls. Arbeit, so die unter Rot-Grün, unter Rot-Schwarz und auch Schwarz-Gelb favorisierte Ideologie lautet: Arbeitskosten - Löhne und Auskommen - drücken, drücken, drücken. Die Arbeitsagenturen und Jobcenter werden dabei seit 2 Jahrzehnten missbraucht, um flächendeckend Niedriglöhne durchzusetzen. Verteilung, sie wirkt entschieden, beginnt nicht beim Produkt, sondern bei der „angemessenen“ Berücksichtigung der beim „Erwirtschaften“ beteiligten „Faktoren“. Nennen wir es ruhig „Preis“. „Preis der Arbeit“ zum Beispiel. „Preis“ auf erbrachte „Leistung“. Warum ist der Herr Sinn, vom Steuerzahler alimentiert und außerhalb jeder Wertschöpfung stehend, seinen „Preis“ wert. Warum liegt die Fabrikarbeiterin, Teil der Wertschöpfungskette, so viel niedriger im „Preis“. Der Wurm liegt - oder? fragt sie mich - in der „Werthaltigkeit“ von Arbeit begraben. Ich nicke, um den Gesprächsfluss nicht zu unterbrechen. Wer aber hält, sagt sie, etwas „für wert“ oder „nicht wert“. Angebot und Nachfrage heißt die eine Antwort. Die andere Antwort lautet in der Regel, qualifizierte Arbeit ist teuer, gering qualifizierte Arbeit gibt’s billig oder umsonst. Was ist das eine, was das andere. Wie stelle ich fest, was „qualifizierte“ Arbeit ist. Gemessen am Aufwand der - im übrigen - gesellschaftlich finanzierten Erzeugung von Qualifikationen oder am „Gewinn“, den die Gesellschaft von verschiedenen Arbeiten und Dienstleistungen hat? Das Reinigen und Neuverlegen von städtischer Kanalisation kann bisweilen hilfreicher sein als das Gutachten eines Ökonomen zur Frage der Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik. Direkt gefragt: Was bringt uns dazu, das eine gut, das andere schlecht zu entlohnen? Wenn du - und jetzt guckt sie mich eindringlich an - eine Antwort weißt, die Macht, Interessen, Kultur, Tradition und gesellschaftliche Übereinkünfte herausrechnen kann und einen „objektiven“ Maßstab zu benennen weiß, dann bitte ich dich, ihn zu benennen. Ich bin ratlos. Nicht Verteilungsgerechtigkeit, hebt sie wieder an, ist unser Problem. Die Verteilungsdebatte ist pure Ideologie. Die intelligente Verknüpfung von Arbeitsvermögen, Erfahrung, Eigentum und Geld wird uns weiterhelfen. Mit Markt kann man problemlos leben, wo die Regeln gemeinsam geklärt sind. Heißt - sagt sie mit Nachdruck - natürlich auch: Demokratie, hohe Steuern auf Eigentum und Vermögen. Heißt: Miteinander leben wollen. Ich bin kitschig, sagt sie. Das kannte ich noch nicht von ihr. In der Anderen, und sei sie mir noch so fern und anstrengend, eine von meines gleichen zu sehen. Ein Mensch. Ganz schlicht. So was mögen ja zur Zeit nicht mal mehr die Sozialdemokraten, von den anderen Parteien ganz zu schweigen, sagt sie. Ich gucke in’s Glas und schweige ein bisschen betreten. Ein Sozialdemokrat, das fiel mir ein, hatte gerade - wir kennen dies aus den Jahren 1933 - 1945 - von „ökonomisch nutzlosen“ Menschen gesprochen. Rauch stieg auf. H. hatte sich eine Zigarette angezündet.
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