Mittwoch, 15. November 2023

„Wir atmen doch, wir verändern uns!“ (S. Beckett) II

 Von weiter her

Lesen bildet, heißt es. Vorlesen gibt etwas dazu. Es verleiht dem Text einen 'Klangkorpus'. Dem Singen verwandt. Vorlesende akzentuieren und modulieren mit ihrer Stimme, 'laden' Sätze auf und bieten Interpretationen an. Aus einem inneren Zwiegespräch mit dem Text wird hörender Nachvollzug. Der fordert eine andere Konzentration. Das Gehörte ist flüchtig, ein Nachlesen, wenn etwas unklar bleibt, nicht möglich. Die Beziehung zum Text wird überlagert von der Beziehung zum Vorlesenden und seiner/ihrer Stimme. Ist diese warm oder enervierend, klar in der Aussprache, hält sie ein Tempo ein, das dem Verstehen, Behalten und Erinnern engegenkommt, konnte sie gegebenenfalls langweiligen Passagen Witz und Tempo abringen, bot sie Kraft und Anregung für Phantasie, 'verlebendigt' sie den Text und 'berührt' er durch die Stimme? Mehr Fragen als Antworten: Theater eben, diesmal in der Berliner "Schaubühne".

Ein Dokumentarfilmer und Regisseur (Christian Tschriner) läßt in einem Tonstudio eine Schauspielerin (Isabelle Redfern) zu seinem Bildmaterial, im Hintergrund auf große Leinwand projiziert, Textauszüge aus Didier Eribon's Buch "Rückkehr nach Reims" einlesen. Ein Toningenieur (Amewu Nove) stellt dem finanziell klammen Filmemacher für einen geringeren Stundensatz Studiozeit in den Abendstunden zur Verfügung. Eine fast intime, ruhige Szenerie, unterbrochen von immer wieder aufflackernden Gesprächen und Auseinandersetzungen. Diese lösen sich schnell vom Text und verhandeln, was auch Eribon umtreibt. Der 'Vorleserin' folgen wir gerne. Ihre Stimme hat's, sie kann's.

Das Buch habe ich nicht gelesen. Ich erfahre und schaue durch den Filter von Thomas Ostermeyer, verantwortlich für die Inszenierung. Worum geht es? Um familiären Zwist, Abkehr, um Scham und sexuelle Selbstbestimmung. Sozial gerahmt in Klasse, sozialkulturellem Milieu, politischer Parteienkonstellationen und französischer Noblesse. Ein Mix aus linker Soziologie, Klassenkampf, französischer Nachkriegsgeschichte, dem Wandel kultureller Identitäten und Aufbruch. Die Lesung geschickt kombiniert mit Filmeinschüben und diskursiv-spielerischen Elementen. Letztere loten die Bandbreite sozialer und gesellschaftlicher Diskriminierung aus, in den 50'ern bis in die 80'er Jahre hinein noch weitgehend identisch mit Grenzziehungen entlang sozialer Klassenlagen. Die Soziologie hat die doppelte Funktion der sozialen Scham darin verstanden, dass sie die Beschämten herabsetzt und sie im Empfinden der Scham die eigene Unterordnung unter andere anerkennen lässt. Beschämung, moralische Selbstverurteilung und Achtungsverlust als Teil der formellen wie informellen sozialen Kontrolle sind geläufige Strategien, um soziale Ungleichheit, Statuspositionen und Machtansprüche zu behaupten. Klasse und Milieu bieten einiges auf, um über Kultur und Politik Formen der Selbstbehauptung zu etablieren und eigene Machtansprüche zu formulieren. Geraten erstere in den Malstrom von Enttraditionalisierung und Individualisierung fehlen die kollektiven Antworten. Arbeit verändert ihren (vormals 'klassensozialisierenden') Charakter, Milieus verschwinden, politische Orientierungen geraten ins Wanken, familiäre Bande lösen sich auf, Quartiere und Städte wandeln ihr Gesicht, Armut diffundiert in Folge laufender und wachsender Zuwanderung. Eine doppelte Front eröffnet Eribon zudem mit seinem Bekenntnis zur Homosexualität, in Fremd- wie Herkunftsmilieu in den 60er- und 70er-Jahren gleichermaßen geächtet. Der Bruch mit dem Vater ist darüber und über dessen Tod hinaus nicht heilbar. Zuück bleibt ein auf sich selbst zurückgeworfendes, mit seinen Verletzungen beschäftigtes Subjekt.

 


 

Die Konstellation auf der Bühne darf man dankbar nennen. Ein nicht ganz so alter, aber doch 'weißer Mann' im Gespräch mit zwei, wie es heute heißt, 'PoC's'. Die Positionen sind verteilt, bringen Dringlichkeit und Farbe in immer wieder aufflackernde Debatten. Der Regisseur hofft, mit seiner Deutung von Text und Bild fraglos zu bestehen, die Schauspielerin leistet mit dem Einsprechen einen Freundschaftsdienst, der Toningenieur macht mit Sonderkonditionen die Aufnahmen und Fertigstellung des Films erst möglich. Nicht das 'Band des Geldes' bringt sie zusammen, sondern ein unausgesprochenes Interesse an der Sache. Das schafft eine 'Duldungspflicht', soll das Projekt gelingen. Die Schauspielerin nimmt sich das Recht heraus, alternative 'Passungen' von Text und Bild vorzuschlagen, der Toningenieur, mit Verweis auf familiäre Pflichten, fordert diszipliniertes Arbeiten ein, der Filmemacher, zunächst verschanzt im „Mansplaining“, geht nach und nach, mit Gewinn für sein Projekt, auf Einwände und Anregungen seiner MitstreiterInnen ein. Das öffnet Raum, um auf der Vorlage von Eribons Text zwanglos eigene Diskriminierungserfahrungen einfließen zu lassen. Sprachlich faszinierend und sehr dicht in den 'Rapeinlagen' des Toningenieurs, anrührend in der Familiengeschichte - ebenfalls eine Vatersuche - der Schauspielerin.

Wir verlassen das Theater mit der milde stimmenden Annahme, dass die Klagen (von Minderheiten und Gruppen) mit Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass das Grundgesetz uneingeschränkt Gültigkeit besitzt. Ihre legitimen und selbstbewußt vorgetragenen Ansprüche fußen auf der - derzeit immer noch und immer wieder enttäuschten - Erwartung, den ihnen zustehenden Status als Bürgerinnen und Bürger mit Selbstverständlichkeit und allen politischen, ökonomischen, sozialen Rechten im Alltag leben zu können. Aber auch das nehmen wir mit: Soziale Grenzen werden durchlässiger - nicht zu verwechseln mit offenen Aufstiegsoptionen, Macht und Einfluß - und quer zu ihnen organisieren sich soziokulturelle Gemeinschaften, denen selbstgewählte wie zugeschriebene 'Werte', Identitäten und ethnische Zugehörigkeiten Halt und Orientierung geben. Unser Bühnentrio gibt ja im kleinen ab, was in Arbeitszusammenhängen mittlerweile Alltag geworden ist. Teamarbeit in flachen Hierarchien und 'multikulturellen Kollegien'. Keine 'herrschaftsfreien Räume', aber Arrangements, die den Beteiligten Abstimmung, Konzentration auf die 'gemeinsame Sache' und wechselseiten Respekt und Anerkennung abnötigen. Anders formuliert: Wer 'System' ruft, muss beantworten können, wie im Alltag Befriedung hergestellt werden kann. Wer 'Strukturen' nicht kennzeichnet, begibt sich der Chance, substanzielle Veränderungen herbeizuführen. Die wird es nur im politischen Raum geben.

 

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