Sonntag, 5. November 2023

"Legt es zurück auf die Spitze des Beats"

Tradition, auch musikalische, kann erdrücken. Selbst vormals innovative, Rhythmen, Sound und Vortragsweisen entgrenzende Genres sind nach einem knappen Jahrhundert und in 'industrieller Fertigung' als Dauerschleife im besten Fall selbtreferentiell, im schlechtesten Falle musikalisch tot. Allenfalls als Klangtapete für die Umsatzsteigerung in einer bunten Waren-, Werbe- und Eventökonomie noch brauchbar. Wie also umgehen mit dem, was Country, Gospel, Jazz, Blues, Rock und Popmusik an Klanghalden aufgetürmt haben. Eine aufgeklärt intelligente, den Ausdrucks- und Formenreichtum nutzende Art der Aneignung und Weitergabe konnte jüngst im Konzert bestaunt werden.
Mit mächtigem Wums und Breitwandsound gehen Rebecca Lovell, Lead-Vocals und Gitarre, und Megan Lovell, Lap-Steel-Gitarre und Harmonie-Gesang, unter ihrem Bandnamen 'Larkin Poe' zur Sache: Bluesrock mit vielen Bezügen in die 70'er und Anleihen bei Southern- und Glamrock. Gibt erstere den Songs mit Power-Riffs Tempo und Struktur, gibt letztere mit der Lap-Steel den Songs Wärme und öffnet in vielfältigen Variationen immer wieder neue Klangräume. Ungestüm wäre nicht der richtige Ausdruck, dazu sind die beiden zu abgeklärt. Aber frisch und jung klingt das allemal. Souverän bringen sie ihre Songs, begleitet von Bass und Drums, über die Bühne. Dass sie, heute Anfang 30, von Kindesbeinen an ihre Instrumente gelernt haben und mittlerweile im Schlaf beherrschen, schafft die nötige Routine und Sicherheit, um ein Publikum über einhalb Stunden bei bester Laune zu halten. Nicht zu vergessen und im Bandkontext die halbe Miete: Rebecca Lovell ist eine großartige Sängerin mit passender Stimme. Wer wissen will, woher Rebecca und Megan Lovell ihre Inspiration beziehen, schaue und höre sich ihren 'Cover Channel' an. Dort arbeiten sie sich akustisch durch die Blues-, Rock- und Popgeschichte der letzten Jahrzehnte. Noch bis ins Jahr 2009 spielten sich die beiden mit ihrer Schwester Jessica Lovell als 'Lovell Sisters' auch durch den unerschöpflichen Country-Katalog. An diese Phase erinnern sie in der Mitte des Konzerts mit einem akustischen Set. Sie sind jung genug, um nicht in Ehrfurchtshaltung zu verharren, musikalisch aber so ausgefuchst und erfahren, um der Tradition ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Screamin' Jay Hawkins hätte seine Freude gehabt an 'Bad Spell'. Und auch Ray Charles wußte, dass man, bei allem Schmerz und aller Sehnsucht, zuweilen Heimat, Frau oder Freund hinter sich lassen und Grenzen überschreiten musste. So geht 'Call and Response' über Jahrzehnte, Generationen und Geschlechtergrenzen hinweg. Die klassische Musik, schreibt Alex Ross, „ist nicht mehr das einzige Genre, das die Last der Vergangenheit zu tragen hat.“ Was daraus folgt? Die beste Art, dem klassischen Bestand gerecht zu werden, „besteht nicht in einem Rückzug in die Vergangenheit, sondern“, so schreibt er weiter, „in einer Intensivierung der Gegenwart“ (Alex Ross, Listen to this, Hamburg 2020). Dem kommen 'Larkin Poe' mit Bravour nach. Dass so wenig unter 55jährige den Weg in's Konzert fanden, mag man bedauern. Es zeigt, wie musikalische und soziale Klischees und Etikettierungen nach wie vor Rezeption, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit steuern. Uns Alten kann's egal sein: „We know what time is, time is a thief.“ Daher: „Kick the blues tonight.“ Nicht mehr und nicht weniger.

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