Sonntag, 16. August 2009

Dämmerung


Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug bekanntlich in der Abenddämmerung. Erst wenn der Tag hinter uns liegt, so die Lehre, reichen Ablauf und Geschehen in’s Bewusstsein. Ein analytischer Blick bedarf des Abstandes. Ob dem so ist, lassen wir einmal dahingestellt sein. Aber: Besser spät, als gar nicht aufwachen. Ein Aufruf, unterschrieben von namhaften Köpfen aus der ganzen Republik, wendet sich an die Politik mit dem dringlichen Appell, die ausufernde Sanktionspraxis der Jobcenter auszusetzen. Wer vor ein paar Jahren gehofft hatte, dass unsere Dichter und Denkerinnen sich vor Inkrafttreten der entsprechenden gesetzlichen Regelungen massiv dagegen in’s Zeug legen würden, sah sich getäuscht. Auf den vielen Montagsdemonstrationen waren wir allein, sehen wir einmal von den stets Engagierten ab. Sei’s drum. Mit Hartz IV sind Entwürdigung und Entrechtung Alltag, ist Deutschland endgültig Billiglohnland und Armut, insbesondere von Familien und Kindern, Normalität geworden. Die Arbeitsmarktgesetze haben Spuren hinterlassen, die Demokratie und Rechtsstaat „auszehren“. Formen der „Apartheid“, absichtsvoll auf den Weg gebracht, bewehrt mit und durch das Handeln mächtiger Institutionen, wuchern und wachsen in’s soziale Gewebe hinein. Angst macht gefügig. Wer alles zu verlieren droht, wird seine Rechte nicht wahrnehmen. Hart IV entfaltet seine Wirkung in der Disziplinierung der in Lohn und Brot befindlichen Arbeitnehmerinnen. Gewerkschaften bleiben still, wenn hohe Arbeitslosigkeit die Durchsetzungsfähigkeit in Grenzen hält. So waren sie, diese Gesetze, gemeint. Das begleitende Getöse um Teilhabe und Chanchengleichheit, Fordern und Fördern, hält keiner seriösen Überprüfung stand. Zynismus und medial vielstimmig konzertierte Diskussionen um die „Unarten“ der neuen Unterschichten fanden in Wolfgang Clement einen würdigen Kapellmeister. Die SPD, es ist schade drum, wird ersticken an ihrer Weigerung, vor’s Wahlvolk zu treten und sich zu entschuldigen mit den einfachen Worten: Wir haben uns geirrt, wir werden es künftig besser und anders machen. Nur dies brächte genug Luft unter die Flügel, um wieder Höhe zu gewinnen. Mit der alten Garde wird das allerdings nicht zu machen sein. Sie glaubt, was immer sie dazu treibt, Aufrichtigkeit, auch im Eingestehen eigener Irrtümer, biete im politischen Tagesgeschäft nur Munition für den Gegner. So reiht sich dann Verdruckstheit an Lüge, Lüge an Verlegenheit, Verlegenheit an zaghafte Versuche, politische Programmatik wieder in die Diskussion zu heben, Durchgewurschtel an internes Machtgerangel, Machtgerangel an Intrige, Intrige an Lüge. In Gänze durchtränkt vom Klebstoff der Macht, des Geldes, der Korruption und des devot erbetenen „Zutritts“ zur Elite. Dagegen wäre im Übrigen gar nichts einzuwenden, wenn denn die SPD angeben könnte, warum sie das will und für wen das sonst noch gut sein sollte. Aber auch dafür fehlt die Kraft. Da haben es FDP und CDU bedeutend einfacher. Reicht der einen ihr schmissiges „Jede ist sich selbst die nächste“, kommt die andere Partei noch immer mit einem leidlich modernisierten, paternalistischen „Auf unserer Scholle findet jede ihren angestammten Platz“ aus. Die Linke bohrt, stellt die richtigen Fragen, macht plausible Vorschläge, kann aber keine Antwort auf die Frage geben, wie’s denn nach einem Systemwechsel aussehen soll. Der entsetzliche Muff der untergegangenen DDR wird ihr noch das eine oder andere Jahrzehnt um’s Gesicht wehen. Das sieht nicht schön aus und riecht auch nicht gut. Die Grünen haben ein ähnliches Problem wie die SPD. Sie haben den ganzen Hartz-Unfug, einschließlich des Einreißens aller Sicherungen im Finanzbereich, der Zerstörung des Rentensystems und der systematischen Begünstigung von Unternehmen und Vermögenden mitgetragen. Kein Wort des Bedauerns, kein Entschuldigung. Sie trifft es nicht mit voller Wucht, da ihre Klientel kleiner ist, treuer - sie geht noch zur Wahl - und bisher (noch) nicht zu den Verlierern der selbst in’s Werk gesetzten „Reformen“ zählt. In dieser Hinsicht kann man der SPD Mut nicht absprechen. Sie „führt Krieg“ gegen ein gut Teil ihrer eigenen Wählerbasis. Der Einwand, man dürfe doch nicht immer nur nach hinten schauen, trifft nicht. Wer die Auseinandersetzung scheut, von dem wird man erwarten, ja erwarten müssen, dass ihm nach der Wahl die eigene Programmatik nichts gilt. Hamburg ist dafür ein gutes Beispiel. Kohlekraftwerk ja, Elbvertiefung ja, Studiengebühren ja usw, usw. Das gehobene Bürgertum hat sich mit sich selbst versöhnt. 30 Jahre hat’s gedauert, dann war’s so weit. Wo der Rest bleibt, wen schert’s? Die Finanzkrise hat die Dinge noch einmal besonders grell ausgeleuchtet. Heute wird belohnt, wer nichts leistet, heute wird belobigt, wer betrogen hat, heute tritt Recht und Gesetz außer Kraft, wenn es partikularen Interessen dient, heute wird mit öffentlichem Vermögen und Steueraufkommen bedient, wer am Markt fehlspekuliert und verloren hat, heute reicht Politik durch und gießt in Gesetze, was ihnen ein Herr Ackermann und Anwaltskanzleien diktieren. Zu einfach gedacht? Zugegeben, für diese Form von Schwarz-Weiß-Malerei müßte es eigentlich Scham-Punkte geben. Daher, gleichsam als Lackmus-Test, ein Angebot. Wetten, nach der Wahl wird die Rechnung präsentiert? Wetten, die Kosten der Krise werden die schultern müssen, die ohnehin nichts haben? Wetten, die Einkommensdrift hält an und verstärkt sich? Zurück zum Appell. Schön, dass sich Menschen zu Wort melden. Besser noch wäre, wir bewegen uns alle ’mal und machen den Damen und Herren in Politik und Wirtschaft ordentlich Angst und vor allem Beine.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen